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Feature

Glücklos in Gevgelija

Reisereportage aus Mazedonien: Die mazedonische Grenzstadt Gevgelija wurde bekannt als Brennpunkt im Flüchtlingsdrama. Ausgerechnet sie vermarktet sich nun als "Las Vegas des Balkans". Der Autor unterbrach seinen Urlaub in Griechenland für eine Zockertour ins Nachbarland


An meinem zweiten Tag in Thessaloniki sitze ich morgens mit Dimitris, dem griechischen Gastgeber, beim Frühstück und frage ihn nach Tipps für Ausflüge in die Umgebung. Er überlegt nicht lange und empfiehlt einen Trip in das nördliche Nachbarland.

Ich staune. Das nördliche Nachbarland ist die ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien, eines der ärmsten Länder Europas. Dort gibt es keine Meeresküste, keinen Strand. "Was spricht für Mazedonien?", frage ich Dimitris.

Mein Gastgeber erklärt mir, dass viele Griechen aus zwei Gründen regelmäßig ins Nachbarland fahren. Der erste Grund ist die Wirtschaftskrise, sie zwingt die Menschen zum Sparen, und jenseits der Grenze ist vieles günstiger. Zigaretten, Benzin und Lebensmittel, vor allem Fleisch.

"Wenn man im Supermarkt viel einkauft und das Auto volltankt, zahlt man ungefähr Hundert Euro weniger als bei uns", rechnet er vor. Manche Leute kauften auch Kleidung und gingen zum Friseur oder zum Zahnarzt. Ich bin skeptisch, denn ich brauche keinen neuen Haarschnitt und würde eigentlich lieber ans Meer fahren als zum Shopping nach Mazedonien. Aber ich möchte nicht unhöflich sein und erkundige mich nach dem zweiten Grund für den Ausflug. Und staune wieder.

Denn der zweite Grund ist: Glücksspiel. Dimitris erzählt, dass es direkt hinter der Grenze eine Stadt mit vielen Spielkasinos gibt. Dort könnten wir, ich und Dimitris, doch einen lustigen Abend verbringen. Und vielleicht als reiche Männer zurückkehren. Der Entschluss steht.

Auf zum "Las Vegas des Balkans"

Die Stadt mit den vielen Spielbanken ist Gevgelija. Vor einiger Zeit ist die kleine mazedonische Grenzstadt europaweit bekannt geworden, denn sie liegt auf der so genannten Balkanroute der Flüchtlinge aus dem Mittleren Osten.

Als die mazedonische Regierung im August den Zugverkehr nach Serbien stoppte, strandeten Tausende Flüchtlinge am Bahnhof von Gevgelija. Die Situation eskalierte, die mazedonische Polizei setzte Tränengas und Blendgranaten gegen die Flüchtlinge ein. Plötzlich wurde der Name einer mazedonischen Kleinstadt zum Synonym für das Flüchtlingsdrama.

In Mazedonien und im Norden von Griechenland hat Gevgelija aber schon länger eine anderes Synonym: Glücksspiel. Bis nach Westeuropa hat sich das noch nicht herumgesprochen. Doch schon sprechen die mazedonischen Tourismus-Manager vom "Las Vegas des Balkans". Nur kälter ist es in Gevgelija.

Streit um den Namen des Landes 

Am Nachmittag steigen wir ins Auto und machen uns auf den Weg, die Grenze ist nur eine Autostunde entfernt, Richtung Norden. Wir lassen mit der Großstadt Thessaloniki die Mittelmeerregion hinter uns und folgen einer Landstraße, die in sanften Kurven durch eine hügelige Balkanlandschaft nach Norden führt, wo die Silhouette von Bergketten im Dunst verschwimmt.

Unser Ziel ist ein Land, dessen Namen die meisten Griechen niemals aussprechen würden. Denn die Sache mit dem Namen ist kompliziert: Wenn Griechen von Mazedonien sprechen, dann meinen sie den nördlichen Teil ihres eigenen Landes, auch Makedonien genannt. Dass der nördliche Nachbarstaat sich anmaßt, denselben Namen zu tragen wie eine griechische Region, gilt in Griechenland als politischer Affront und wird bis heute offiziell nicht akzeptiert.

Wegen der griechischen Proteste hat sich auch international der etwas umständliche Ländername "ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien" durchgesetzt – beziehungsweise FYROM ("Former Yugoslav Republic of Macedonia"). Viele Griechen sagen aber einfach nur "Skopje" und nennen das ganze Land so wie die mazedonische Hauptstadt, was im ex-jugoslawischen Mazedonien wiederum als Affront angesehen wird.

EU-Bürger sind willkommen

Am Grenzübergang warten neben uns zwei dunkle Vans mit getönten Scheiben, beide tragen das Logo eines Kasinos: Shuttle-Busse für den Transfer glücksspielwilliger Gäste zwischen Griechenland und Mazedonien. Vom Flüchtlingsdrama kriegt man am Grenzübergang nichts mit. Die Busse mit den Flüchtlingen halten einige Kilometer entfernt im Dorf Idomeni.

Am offiziellen Grenzübergang wirft ein uniformierter Mann einen flüchtigen Blick auf unsere Pässe und winkt uns durch. EU-Bürger auf dem Weg ins Kasino sind willkommen. Kurze Zeit später macht die Straße eine lang gezogene Linkskurve, auf der rechten Seite sehen wir Shopping-Malls, dahinter eine glitzernde Fassade.

Riesige rote Neonbuchstaben weisen den Weg zum Princess-Casino. Über dem Eingang leuchtet eine goldene Krone in der Abenddämmerung. Es ist früher Abend, zu früh für ein Kasino. Wir wollen den Abend mit einem Drink in einer Bar im Stadtzentrum starten.

Die Flüchtlinge bleiben unsichtbar

Auch im Zentrum von Gevgelija bemerkt man nicht, dass sich an diesem Tag Flüchtlinge in der Stadt aufhalten. Auf der Flaniermeile Ulica Marchal Tito stehen junge Leute in kleinen Gruppen zusammen, sie plaudern, flirten, trinken Bier und rauchen Zigaretten. Aus Pizzerien und Bars hört man laute Musik.

In den Schaufenstern der Geschäfte sieht man vor allem Grau und Schwarz, Herbst- und Wintermode, viele Stücke mit den Logos teurer Marken, echt oder unecht, alles ist günstig. Hinter anderen Schaufenstern sitzen Männer, die sich die Haare oder den Bart schneiden lassen.

Die Bars in Gevgelija sind weniger trendy als die Shops. Wir bestellen einen Tequila Sunrise und einen Tee, fragen die junge Kellnerin, ob wir mit Euros bezahlen können. "Yes, of course", sagt sie, und kassiert für den Tee einen Euro, für den Cocktail 1,50.

Kasinos statt pittoresker Altstadt

Für Touristen hat Gevgelija auf den ersten Blick nicht viel zu bieten. Es gibt keinen historischen Stadtkern, keine alten Kirchen, keine pittoresken Gebäude. So ist es nur konsequent, dass die Stadt andere Attraktionen entwickelt hat und auf Shopping, günstige Dienstleistungen und Kasino-Tourismus setzt.

Im Zentrum gibt es zwei Spielbanken: Apollonia und Senator. Apollonia buhlt mit einer schicken Fassade und blauer Beleuchtung um Gäste. Senator wirkt eher schlicht, ist mehr eine Spielhalle als ein Kasino.

Die größten und beliebtesten Spielbanken befinden sich außerhalb des Zentrums. Sie heißen Princess und Flamingo, beide kombinieren den Betrieb mit einem Vier-Sterne-Hotel. Erst zocken, dann den Glücksrausch ausschlafen, lautet das Konzept.

Wir entscheiden uns für das Flamingo. Als wir gegen 21 Uhr ankommen, ist der Parkplatz gut gefüllt, Hunderte Autos, fast alle mit griechischen Kennzeichen. Inzwischen ist die Sonne untergegangen, die Fassaden der kleinen Stadt sind von der Dunkelheit verschluckt.

Jetzt sieht man nur noch die glitzernde Front des Kasinos mit dem blinkenden, roten Flamingo-Schriftzug und den illuminierten, kleinen Fontänen, die in einem Wasserbassin vor dem gläsernen Eingang sprudeln. Die Luft ist trocken und staubig, ein Hauch Las Vegas?

Biometrische Daten werden erfasst

Ein Spielkasino ist eine Parallelwelt, in der man schnell vergisst, ob es draußen Tag oder Nacht ist. Es gibt keine Fenster und kein natürliches Licht. Der Zigarettenqualm der Spieler ist ein bisschen stärker als die Klimaanlage. Das Heer der Einarmigen Banditen klingelt monoton.

Bevor wir uns all dem hingeben dürfen, bittet eine Dame am Empfang um meinen Reisepass. Ohne eine Registrierung darf ich nicht hinein. Sie schiebt mein Ausweisdokument über ein Lesegerät, dreht dann einen kleinen Iris-Scanner in meine Richtung und bittet mich, hineinzusehen. Dass ein mazedonisches Kasino biometrische Daten von mir haben will, finde ich nicht so gut, aber es geht anscheinend nicht anders.

Die Registrierung dauert nur eine Minute, und schon schiebt die Rezeptionistin mit einem Lächeln eine blaue Plastikkarte über den Tresen. Meinen Mitgliedsausweis. Der griechische Begleiter bekommt ebenfalls eine neue Plastikkarte. Er ist bereits registriert, aber er war länger nicht mehr vor Ort.

Kronleuchter für die besten Gäste

Nach der Registrierung fragt uns die Rezeptionistin, ob wir an einer kurzen Führung interessiert sind. Eine Kollegin sei bereits auf dem Weg. Einen Moment später reicht uns eine platinblonde Daniela zur Begrüßung ihre manikürte Hand.

Sie trägt ein goldenes, sehr kurzes Kleid und schwebt auf hohen High Heels vorweg. "Unser Casino hat zwei Ebenen", erklärt Daniela. "Wenn ihr Poker oder Roulette spielen möchtet, müsst ihr nach oben gehen."

Wir folgen ihr in einen Kuppelsaal, dort stehen die Roulette-Tische, der Mindesteinsatz beträgt 2,50 Euro. Nebenan gibt es Räume mit weiteren Slot-Machinen, eine Bar im englischen Stil und eine schwere Tür, hinter der sich ein elegantes, kleines Restaurant mit weiß eingedeckten Tischen und funkelnden Kronleuchtern versteckt.

"Das ist für unsere besten Gäste", sagt Daniela, legt mir lächelnd die Hand auf die Schulter und erklärt, dass die besten Gäste natürlich die mit den meisten Punkten sind. Je höher der Einsatz im Glücksspiel, desto höher ist auch das Punktekonto der Spieler. Man erkennt das auch an den Farben der Mitgliedskarten – es gibt dunkelblaue, rote, goldene.

Die Maschine rattert, brummt und klingelt

Daniela verabschiedet sich, sie wird jetzt in einem anderen Teil des Gebäudes gebraucht. Als angehende Glücksritter fangen wir an, wie jeder in einem Kasino anfängt: an einem Einarmigen Banditen. Unser Limit setzen wir auf zehn Euro fest. Pro Kopf.

Ich schiebe meine dunkelblaue Mitgliedskarte in die Slot-Machine, die mich gleich darauf erkennt und namentlich begrüßt: "Hello, Oliver", steht auf einem Display. Ich halte einen Geldschein in den dafür vorgesehen Schlitz. Die Maschine saugt ihn ein, sie blinkt und macht komische Geräusche.

Vor zwei Minuten hat Daniela neben mir gestanden und erklärt, wie die Maschine funktioniert und welche Spiele man wählen kann. Aber ich habe anscheinend nicht aufgepasst, denn es gelingt mir nicht, die Maschine zu steuern. Ich drücke Knöpfe, wische hilflos mit der Hand über die gläserne Front, das bringt nichts, es ist kein Touchscreen.

Die Maschine rattert, brummt und klingelt, einmal sehe ich drei Erdbeeren nebeneinander, ich gewinne Punkte, die ich aber schnell wieder verliere. Der Mindesteinsatz pro Spiel beträgt an dieser Maschine 25 Cent. Es dauert eine halbe Stunde, bis ich meine zehn Euro durchgebracht habe.

An der Bar ist wenig los

Mein griechischer Begleiter hatte noch weniger Glück und sitzt bereits an der englischen Bar. Wir bestellen ein Bier und eine Cola und beobachten auf einem großen Bildschirm, wie Daniela in einem anderen Teil des Kasinos eine Tombola moderiert. Sie spricht jetzt Griechisch, ich kann sie nicht verstehen.

Die Getränke kosten nichts, wir bestellen eine zweite Runde, aber keine dritte. Auch die anderen Gäste sind diszipliniert, an der Bar ist wenig los, der Alkoholpegel bleibt moderat und die Einsätze der meisten Spieler vermutlich auch.

Die Kasinogäste tragen Jeans und T-Shirt, man sieht keine Juwelen und keine Luxuslabels. "Du hast bestimmt gedacht, dass die reichen Griechen im Kasino Champagner trinken und ihr Vermögen verzocken, oder?", fragt mein griechischer Begleiter und grinst mich an.

Ich grinse zurück und sage nichts. Wir sitzen noch eine Weile an der Bar und sprechen über Griechenland, die Wirtschaftskrise und ihre Konsequenzen, die griechische Politik und die vielen Flüchtlinge.

Gegen Mitternacht verlassen wir das Etablissement. Dimitris lenkt das Auto auf die Schnellstraße, die uns in wenigen Minuten zur Grenze führt. Draußen hat es angefangen zu regnen, auf dem Kasinoparkplatz waren es nur ein paar Tropfen, doch der Regen wird stärker und die Sicht auf der Landstraße nach Thessaloniki immer schlechter.

Eine Weile fahren wir schweigend durch die Nacht, dann sagt Dimitris plötzlich etwas auf Griechisch. Es klingt wie ein Fluch. "Heute Abend haben wir wirklich kein Glück", murmelt er einen Moment später und stellt die Scheibenwischer mit einem Seufzen auf die höchste Stufe. In Las Vegas wäre es wohl ähnlich gelaufen, nur ohne Regen.