Das jüngste Opfer war ein Säugling. Der Älteste der Ermordeten ein Mann von 77 Jahren. Ohne Unterschied massakrierte die Armee der selbst ernannten „Republik Srpska" in der Kleinstadt Srebrenica in Bosnien mehr als 8000 Muslime. Der Völkermord von Mitte Juli 1995 ist als das größte Verbrechen der Nachkriegszeit in die europäische Geschichte eingegangen.
Die Täter sind bekannt; moralische Verantwortung aber tragen auch die Vereinten Nationen: Über die gesamte Dauer des Bosnienkrieges hatten amerikanische Geheimdienstoffiziere nicht nur die Vorzeichen des drohenden Genozids an den muslimischen Bosniern dokumentiert, sondern auch das Scheitern jeglicher Diplomatie. Das zeigen Dokumente, die der US-Militärhistoriker Matthew Aid ausgewählt und in der Datenbank „Cold War Intelligence" des Brill-Verlages veröffentlicht hat.
Dutzende der mehr als 4000 Dokumente beziehen sich auf die Ereignisse in Srebrenica 1995. Sie zeigen: Immer wieder hatten die Nachrichtendienste größere Anstrengungen zum Schutz der Zivilbevölkerung angemahnt. Eine UN-Friedensmission scheiterte. Als die Nato schließlich intervenierte, war es bereits zu spät.
Bis heute beschäftigt das Massaker den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag. Im April wurde Zdravo Tolimir, der damalige Leiter des Geheim- und Sicherheitsdienstes der bosnisch-serbischen Armee, zu lebenslanger Haft verurteilt. Die Urteile gegen die Hauptangeklagten, Armeechef Ratko Mladić und den Präsidenten der „Republik Srpska", Radovan Karadžić, stehen noch aus.
Die politischen Führer der Serben in Bosnien hatten sich das Ziel gesetzt, eine serbische Bevölkerungsmehrheit zu schaffen. Dafür setzten sie früh während des Bürgerkrieges im ehemaligen Jugoslawien auf ethnische Säuberungen. Das berichteten schon im Frühjahr 1992 US-Geheimdienst- und Militärangehörige. Als „DCI Interagency Task Force" bildeten sie eine gemeinsame Aufklärungsgruppe und versorgten auch die Vereinten Nationen mit Informationen aus dem Kriegsgebiet.
In Sturmangriffen sollen demnach bereits 1992 bosnische Dörfer und Städte überrannt worden sein. Gezielt seien dann die nicht-serbischen Bewohner, meist bosnische Muslime, zu Sammelstellen verfrachtet worden, die eilig an Bushaltestellen, auf Sportplätzen und in Schulgebäuden errichtet wurden. Wer Widerstand leistete, wurde sofort erschossen.
In Internierungslagern verrichteten die Gefangenen Zwangsarbeit - oder starben bei Erschießungen. Die Opfer wurden in Massengräbern verscharrt: auf Friedhöfen und städtischen Müllkippen. Ab Herbst 1992 sollen die bosnisch-serbischen Militärführer auch Krematorien genutzt haben, um ihre Opfer verschwinden zu lassen - das berichteten Augenzeugen der CIA.
Einheiten der „Republik Srpska" hatten Srebrenica im Frühjahr 1992 besetzt, doch nach wenigen Wochen eroberten bosnisch-muslimische Soldaten die Kleinstadt zurück. Sie wurde zum Zufluchtsort für die muslimischen Bewohner der umliegenden Dörfer. Bald waren die Verteidiger Srebrenicas vom Rest ihrer Truppen abgeschnitten.
Der Belagerungsring um Srebrenica zog sich immer enger. Mit Unterstützung des Verbündeten Serbien unter Präsident Slobodan Milosević eroberte Mladićs Armee 70 Prozent der Fläche von Bosnien-Herzegowina. Die Gefahr ethnischer Säuberungen in der Enklave stieg. Im Juli 1993 ließ der damalige CIA-Direktor Robert James Woolsey Jr. notieren, dass die bosnisch-serbische Armee, die für ihr Fortkommen auf Kriegsverbrechen und ethnische Säuberungen setzte, in der Lage sei, alle verbliebenen „muslimisch kontrollierten" Gebiete zu erobern.
Um Tausende ziviler Opfer zu vermeiden, mahnte die Task Force im März 1993 die Einrichtung einer Sicherheitszone um Srebrenica an. In ihrem Bericht empfahlen die Experten, die Soldaten der Vereinten Nationen mit einem „robusten Mandat" auszustatten, also der Berechtigung, Waffen einzusetzen.
Nur so könne Srebrenica geschützt werden: „Gepanzerte Fahrzeuge, Helikopter und schweres Verteidigungsequipment wie panzerbrechende Waffen und, wenn möglich, Luftüberwachung" seien nötig, um Angriffe auf die Friedenszone rechtzeitig erkennen und abwehren zu können.
Im April erklärten die UN sechs belagerte Städte, darunter Srebrenica, zu Schutzzonen - und entsandten Friedenstruppen. Gegen den Rat der Task Force statteten die Vereinten Nationen die ausgesandten Blauhelme aber nur mit einem „weichen Mandat aus: Kampfhandlungen waren nur zur Selbstverteidigung erlaubt.
Die Blauhelme entwaffneten den Großteil der Verteidiger Srebrenicas und übernahmen die Verantwortung für die Sicherheit der Bewohner. Immer mehr muslimische Bosnier strömten nun in den „sicheren Hafen". Vor der Armee der „Republik Srpska" und den serbischen Milizen wähnten sie sich hier geschützt. Die Zahl der Einwohner Srebrenicas vervielfachte sich - von 6000 auf 40.000.
1994 forderte der damalige UN-Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali eine Aufstockung der etwa 7000 Mann starken UN-Friedenstruppe für ganz Jugoslawien. Mindestens 34.000 Soldaten sollten nach seinem Wunsch entsandt werden - das entsprach auch den Forderungen der Task Force. Dennoch bewilligte der Weltsicherheitsrat nur eine Aufstockung um 7600 Blauhelme.
Schon 1993 sprach aus Sicht der CIA vieles für eine Intervention der Nato. Ihr Direktor war sich im Juli sicher: „Um einen Friedensplan durchzusetzen, wäre ein großflächiger, umfassender Einsatz von Bodentruppen notwendig." Für die bosnische Armee, so steht es in dem Lagebericht, sei eine westliche Intervention „die beste Hoffnung, überleben zu können". Doch die Intervention blieb aus.
Als die bosnisch-serbische Armee 1995 erneut gegen Srebrenica vorrückte, hatte sie leichtes Spiel. Den Verteidigern der Stadt fehlte es nunmehr an allem: an Verteidigungslinien hinter der Front, an Waffen, an gut ausgebildeten Soldaten - und an funktionierenden Kommandostrukturen. Die militärisch wichtigen Positionen in der Umgebung waren inzwischen serbisch kontrolliert.
Am 6. Juli fing die bosnische Armee einen Funkspruch Ratko Mladićs ab: „Schießt nur auf die Lebenden. Sie haben keine Waffen." Am gleichen Tag begann die Armee der „Republik Srpska", die Schutzzone zu beschießen. Die Niederlande, deren „Dutchbat"-Batallion nur sechs Kilometer von Srebrenica entfernt in einer alten Batteriefabrik im Dorf Potocari stationiert war, forderten Luftschläge der Nato. Der UN-Stab lehnte ab. Als es am 11. Juli erstmals zu Luftangriffen kam, war Srebrenica bereits an Mladićs Truppen gefallen.
„Die bosnischen Anführer zählten darauf, dass UN und Nato irgendetwas unternehmen würden, um die bosnisch-serbische Armee zu stoppen, bevor sie die von der UN deklarierte Sicherheitszone überrennt", heißt es in einem Bericht der Task Force vom 3. August 1995, etwa zwei Wochen nach dem Massaker: „Als offensichtlich wurde, dass es keine Hilfe für Srebrenica geben würde, gab es keinen Notfallplan und es war zu spät für die Verteidiger, um etwas anderes zu versuchen als zu fliehen."
Etwa 25.000 Flüchtlinge versprachen sich Schutz von den niederländischen Blauhelmsoldaten in Potocari. Nachdem sich 6000 Flüchtlinge auf dem Innenhof der stillgelegten Batteriefabrik zusammendrängten, verweigerten die Männer weiteren den Zutritt.
General Mladić und seine Truppen folgten den Geflüchteten; die 450 Blauhelmsoldaten in Potocari ergaben sich kampflos. Unter ihren Augen teilten bosnisch-serbische Soldaten die Flüchtlinge in Gruppen ein und verluden sie auf Lastwagen und in Linienbusse. Angeblich, um sie in Auffanglager zu bringen und flüchtige Kriegsverbrecher zu identifizieren. Bei der vermeintlichen Evakuierung halfen vereinzelt Holländer sogar mit.
Beim anschließenden Massaker ging die bosnisch-serbische Armee so vor, wie es die CIA bereits seit 1992 beobachtet hatte. Doch die Zahl der Opfer und der logistische Aufwand, den die Schlächter betrieben, erreichten ein Ausmaß, das im Europa nach 1945 kaum jemand für möglich gehalten hatte.
Die Flüchtlinge trieben sie an Sammelstellen zusammen. Serbische Milizen vergewaltigten Hunderte Mädchen und Frauen. Mit Linienbussen und Lastwagen brachten sie die meisten Frauen und Kinder anschließend in die Nähe von bosnisch kontrollierten Territorien. Männer und Jungen töteten sie an unterschiedlichen Orten und verscharrten sie in Massengräbern. In Srebrenica leben heute nur noch wenige hundert Muslime.