Ich will noch näher heran. Ganz nahe. Am liebsten würde ich mit beiden Händen durch das dichte weiße Fell fahren. Beide Arme um diesen gigantischen Nacken schlingen und die Kraft dieser Kreatur spüren.
"Langsam, langsam. Nicht so nah ran!" Bärenführer Andy MacPhearson zischt mich an - und ich zucke zusammen. Ein wunderschönes, noch nicht von Kampfblessuren gezeichnetes junges Eisbärenmännchen liegt vor uns im Gras, den Kopf auf die tellergroßen Vorderpranken gestützt, die Augen halb geschlossenen. Jeder Schritt näher wäre gefährlich, auch wenn ein acht Fuß hoher Zaun Tier und Menschen trennt.
Hier am Südwestrand der Hudson Bay, in der menschenleeren Wildnis der kanadischen Baumgrenze, haben wir gerade einen Eisregen überstanden. Im Süden Kanadas genießen die Städter noch ihre Latte-Kaffees in netten Straßencafés.
"Keine abrupten Bewegungen", sagt MacPhearson. Er hat nicht nur den Eisbären, sondern auch seine Touristengruppe fest im Blick.
Der Eisbär ist das größte Landraubtier der Erde. Wer ihm begegnet, soll sich laut dem Ranger nicht durch Gewehre, Böller und Pfefferspray schützen, sondern schlicht den vom Polarbären beanspruchten Raum respektieren. Und die Körpersprache des Tieres beobachten.
Noch zehn Meter. Noch neun. Im Schneckentempo arbeiten wir uns heran. Sobald der Bär den Kopf zu uns herüber dreht, hält MacPhearson inne. Erst wenn der Bär sich wieder in seine Ruhestellung zurückbegeben hat, schleichen wir weiter.
Kurzstreckenjet in die Wildnis
Längst hat die Kälte ihren Weg unter Mäntel und Thermohosen gefunden. Finger erstarren an Auslösern, Nasen tropfen. Als wir nur noch fünf Meter entfernt sind, gehen wir in die Hocke. Der Bär steht auf. Er ist größer als ein Pony. Mit seiner pechschwarzen Nase nimmt er Witterung auf und wirkt, als wäre er bereit, die Flucht anzutreten. Oder anzugreifen.
Während MacPhearson beruhigend auf den Bären einredet, trottet dieser an uns vorbei. Dann macht er kehrt, senkt den Kopf, riecht eine Weile am Zaun und nimmt jeden Einzelnen von uns ins Visier. Dann - zum Erstaunen der Gruppe - legt er sich nieder und schläft ein. Nur anderthalb Meter von uns entfernt.
Das Rendezvous mit den Eisbären startete am Morgen in der Nanuk Polar Bear Lodge. Bereits die Anreise war eine typisch kanadische Milchkannentour: Von Manitobas Hauptstadt Winnipeg ging es im Kurzstreckenjet zunächst nach Thompson und von dort weiter nach Gillam. Dort zwängte man sich in eine der beiden Britten-Norman-Islander von Calm Air, wahre Lastesel der Lüfte. Sie starteten auf einem briefmarkengroßen Flugplatz und sanken nach 45 Minuten gefühlt senkrecht auf die Landebahn der Nanuk Polar Bear Lodge.
Sie liegt gut 500 Meter vom Wattenmeer der Bay entfernt im subpolaren Gestrüpp. Früher ein rustikales Anglercamp, wurde sie vor vier Jahren von Churchill Wild, einem auf die Beobachtung der Eisbären und Belugawale der Hudson Bay spezialisierten Veranstalter, übernommen und für die Bedürfnisse anspruchsvoller Besucher aufgerüstet - Kamin und Lounge mit Panoramafenstern inklusive.
Oktober und November ideal zum Bären-Spotting
Ganz ohne Schutz vor den weißen Riesen geht es allerdings nicht. "Der Zaun erfüllt eine Doppelfunktion", sagt MacPhearson. "Er hält nicht nur die Eisbären auf Abstand, sondern erinnert auch die Gäste daran, dass sie sich auf Bärenterritorium befinden."
Die besten Monate zum Eisbär-Spotting sind Oktober und November, wenn die Tiere darauf warten, dass die Bucht zufriert. Dann ist wieder Zeit für Robbenjagd. Solange die Tundra eisfrei ist, halten die Bären oft ein Nickerchen, so dass man sie bei der Pirsch im offenen Allradfahrzeug gut sieht. Es geht über Bachläufe und Flüsse; ist ein Eisbär in Sicht, hält der Fahrer an. Die letzten Meter geht es zu Fuß.
Hier im Süden der Hudson Bay fällt es schwer zu glauben, dass Eisbären vom Aussterben bedroht sein sollen. Anfang November warten jedes Jahr rund um Churchill, 80 Kilometer nördlich von hier, mehrere hundert Eisbären darauf, sich zur Seehundjagd aufs Eis zu begeben. Und im Umkreis der Nanuk Polar Bear Lodge haben die Guides mehr Weibchen mit Jungen registriert als in den Jahren zuvor.
Die letzten aus der Luft in diesem Abschnitt der Hudson Bay vorgenommenen Zählungen scheinen die Beobachtung zu bestätigen. Während von 1984 bis 2004 eine dramatische Abnahme der hiesigen Eisbärenpopulation aufgezeichnet wurde - die Zahl ging von 1194 auf 935 Tiere zurück - wurden 2012 über 1000 Eisbären gezählt, wie der "Canadian Geographic" berichtete.
Besuch von der Bärenmama
Unterwegs in der Tundra. Näher als 50 Meter wird nicht an die Eisbären herangegangen, so will es die Lodge. Doch an diesem Tag verläuft die Begegnung Mensch-Eisbär etwas anders.
Als eine Bärenmutter mit einem Jungen auftaucht, befiehlt der Guide: "Mund halten und im Gänsemarsch laufen!" Gut 400 Meter sind die beiden entfernt, sie liegen hinter einer Düne, der Kleine döst auf dem Rücken seiner Mutter. In Etappen rücken wir voran, halten an und warten. Dann entdeckt uns das Junge, äugt neugierig herüber, unser Abstand: gut 60 Meter, eher weniger.
"Neun Monate alt", flüstert MacPhearson, "passt auf, jetzt macht er die Mama wach!" Tatsächlich: Sie reckt die Schnauze in die Luft und dreht sich zu uns um. Wir halten den Atem an und rühren uns nicht vom Fleck. Sekundenlang - oder waren es Minuten? - beobachtet sie uns, dann geht sie wieder in Ruhestellung. Doch als wir uns langsam der 50-Meter-Marke nähern, wird sie aufmerksamer und richtet sich auf. Ihr Junges, das bisher munter auf ihrem Rücken herumturnte, trabt nun munter auf uns zu. Noch 40, noch 35, noch 30 Meter.
Ob solche Bärenbeobachtungen die Tiere stören und ihnen schaden können, wurde am Abend zuvor in der Lodge diskutiert. "Wirklich artgerecht ist nur, sich von den Bären fernzuhalten oder die Lodge ganz zu schließen", sagte der Biologe und Naturfotograf Matthias Breiter. Derzeit forscht er für eine Doktorarbeit zum Thema "Aggression bei Bären". Die Anwesenheit von Menschen sei aber seiner Ansicht nicht automatisch negativ für wilde Tiere.
Fotojagd mit Tundra-Buggys
Bei Touren ist vor allem das Wie wichtig, sagte er. Sowohl in der Nanuk Polar Bear Lodge als auch in Churchill hätten die Tiere Platz zum Ausweichen. In der sogenannten Eisbären-Hauptstadt Kanadas gibt es aber Faktoren, die Konfliktsituationen zwischen Mensch und Tier provozieren: "Aufgrund der Müllhalde in Churchill gibt es dort eine Nahrungsquelle, die die Tiere ausnutzen" - so eine Verlockung, die das Verhalten der Bären verändert, bietet die Lodge nicht.
In der Stadt kreuzen zudem 18 sogenannte Tundra-Buggys und einige Geländewagen voller Touristen die Wege der Tiere. "In der Nanuk Polar Bear Lodge lassen die Menschen die Eisbären in Ruhe. Die Tiere, die sich in der Nähe von Menschen wohl fühlen, lassen sich sehen. Die anderen ziehen weiter oder bleiben im Gebüsch. In Churchill haben sie diese Wahl nur beschränkt."
Das Bärenweibchen hat ihr Kleines inzwischen eingeholt. Beide sind nur noch 25 Meter von uns entfernt - für MacPhearson und seinen Kollegen Butch ein wenig zu nahe. Die Guides werfen den beiden ein paar Steine vor die Tatzen, dann einen Ast. Beide drehen um und inspizieren den Ast. Wir nutzen die Gelegenheit und ziehen uns langsam zurück. Als wir den Allrad-Truck erreichen, haben sich die beiden wieder hinter die Düne verzogen.
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