6,4 Quadratmeter. So viel Platz brauchen zwei Menschen, die nebeneinander Yoga machen. Oder vier Kinder, die ein Iglu bauen.
6,4 Quadratmeter, so groß ist auch das "Tiny100", ein Holzhaus auf Rädern, das seit drei Monaten in Berlin-Kreuzberg, am Landwehrkanal, U-Bahnstation Prinzenstraße, steht. Eine vollständige Wohnung, mit Bad, Küche, Bett und Schreibtisch, und das alles in einem Quader, der kleiner ist als ein LKW-Anhänger.
Entworfen wurde das Haus von Van Bo Le-Mentzel, einem Berliner Architekten. Normalerweise darf man einen Wohnwagen nicht länger als zwei Wochen am Straßenrand parken - aber das sogenannte Tiny House ist ein Ausstellungsobjekt, das mit Sondergenehmigung den Stellplatz von November bis März belegt.
Wie lebt man auf so wenig Raum? Für einen Abend, eine Nacht und einen Morgen haben wir das winzige Haus getestet.
Mit Winterjacke empfängt mich Amelie in dem kleinen Häuschen. Die 22-jährige Studentin hat schon eine Woche darin verbracht, zwei weitere werden folgen. Ihr Informationsmanagement-Studium in Hannover hat sie schon fast beendet, jetzt macht sie ein Praktikum in Berlin und schreibt nebenher an ihrer Bachelorarbeit.
Die Möglichkeit, für 100 Euro Monatsmiete in einer eigenen kleinen Wohnung zu leben, bekam sie über die Tiny House University - eine Gemeinschaft von Architektur- und Designinteressierten, zu der auch Amelie gehört. Einmal die Woche können sich Besucher einen Einblick verschaffen, die restliche Zeit hat sie die Bude ganz für sich. Mit dem Einheizen hat sie auf mich gewartet - und während sie den gusseisernen Ofen mit Lüftungsschacht und Holzöffnung erklärt, bilden sich Kondensationswölkchen in der Luft. Es ist wirklich kalt.
Der Ofen macht es langsam wärmer, ich erkunde schon mal die Wohnung. Von außen sieht das Häuschen so aus: langweiliger, holzverkleideter Kasten mit Schornstein. Von innen so: genial. Die massive Haustür nimmt etwa die Hälfte der schmalen Vorderfront ein und führt direkt in das Herz der Wohnung, das Wohnküchenzimmer. Eine kleine Einbauküche mit Edelstahlbecken und Induktionsplatten, ein Ikea-Sessel, der sich zum Sofa transformieren lässt, ein schlichter Tisch.
Nichts scheint überflüssig
Die Decke ist etwa drei Meter hoch, ein großes Fenster und ein Spiegel an der Küchenrückwand lassen den Raum größer wirken. Ich fühle mich nicht eingeengt. Die Einrichtung ist schlicht, aber liebevoll: Mini-Topfpflanzen auf dem Fensterbrett, ein Bücherregal, ein Kalligraphie-Poster an der Wand, eine Retro-Glühbirne als Deckenlampe. Ich merke, dass auch bei der Innengestaltung ein Architekt am Werk war, denn nichts scheint überflüssig, alles ist stilsicher ausgewählt. Nur über Amelie verrät mir die Ausstattung nichts. Bei so wenig Platz wird persönliches Zeug wohl immer gleich verstaut.
Die Galerie fängt erst ab der Küchenzeile an und verbindet Schlaf- und Arbeitsplatz. Die Matratze liegt auf einer Holzebene, die Schreibtischplatte ist so montiert, dass die Beine von der Galerie herunterbaumeln und auf einem Küchenregal Platz finden - den Bürostuhl kann man sich also sparen. Minimalismus zwischen kahlen Holzwänden und schwedischem Design-Katalog.
Dusche, Kompost-Klo und Waschbecken sind auf kleinstem Raum - nicht gerade gemacht für Langduscher. Im Flur ist an der Rückwand Platz für Kleidung und ein kleines Feuerholzlager für den Ofen - das war's. In zwei Minuten hab ich alles gesehen.
In zwei Minuten hab ich alles gesehen
Ein bisschen unbequem ist der noch fehlende Wasseranschluss. Weil das Haus als Ausstellungsobjekt dient und keinen festen Stellplatz hat, muss die Toilette des Cafés gegenüber herhalten. "Ich genieße die Zeit hier trotzdem sehr", sagt Amelie. Sie hat vor, mit ihrem Freund zusammen ein eigenes mobiles Heim zu bauen. Auch wenn ihr Haus mit zehn Quadratmetern etwas größer werden soll - der begrenzte Platz macht ihr nichts aus. "Ich lebe aus Koffer und Reiserucksack und ich merke schon, das ist zu viel. Ich will eigentlich noch weniger haben."
Weniger haben - das würde für mich das Loslassen von innig geliebten Dingen bedeuten. Wehmütig denke ich an meinen Hängestuhl, an meinen Drucker, an mein Cello. Dinge, die mir viel bedeuten oder die einfach nützlich sind, Dinge, über die ich mich definiere. "Klar, ich habe keinen Drucker. Dafür habe ich ein Haus", sagt Amelie.
Hinter dem radikalen Minimalismus steckt auch die Idee, auf unnötigen Konsum zu verzichten. Seinen Kram nicht nur auf das Nötigste zu reduzieren, sondern auch wenig einzukaufen, Kleinigkeiten immer wieder neu zu verstauen, Ordnung zu halten. Doch wie ich hier so stehe: Ein Leben in einem ausgeklügelten Schubladen-Schrank-System entspricht nicht gerade meiner Traumvorstellung von Wohnen.
Wäre es nicht spießig, für jedes Ding einen vorgesehen Platz zu haben?
Lieber ist mir ein Zimmer, in dem ich mich ungebremst ausbreiten und im kreativen Chaos leben kann, ohne darin unterzugehen.
Eng wird es, das merke ich schon nach einer Stunde. Schuhe vor dem Sofa, Taschen darauf, Jacke auf dem Hocker, Laptop auf dem kleinen Küchentisch und kein Platz mehr für mich. Der Raum wird allerdings auch noch nicht perfekt genutzt: Die Wände würden noch Platz bieten für Kleiderhaken, Regale oder Schränke.
Amelie lässt mich für eine Nacht alleine. Als sie weg ist, mache ich mich direkt ans Kochen und merke, was eine Mini-Küche für Vorteile haben kann: Eine halbe Stunde lang stehe ich auf einem einzigen Fleck, drehe, strecke und bücke mich und finde alles, was ich brauche, in greifbarer Nähe.
Den Strom bezieht das Haus aus dem Café gegenüber. Aber das ist nur eine provisorische Lösung, eigentlich steht autarke und ökologische Stromerzeugung auf dem Programm.
Meine Freundin Joana ist gekommen. Doch außer rumzusitzen kann sie gerade nicht viel tun, sonst würden wir übereinander stolpern. Ein Garten und eine Terrasse zum gemeinsamen Chillen, das wär's - im Sommer.
Um elf Uhr abends befinden sich neben, über und hinter mir vier weitere Menschen. Meine Mitbewohner sind zu Besuch und füllen das Tiny House fast vollständig aus. Sie sind gekommen, um sich eine Wohnung anzuschauen, die kleiner als unser kleinstes WG-Zimmer ist.
Ihre erste Reaktion: Wow!
Meiner Mitbewohnerin gefällt die soziale Idee der kleinen bezahlbaren Wohnung, doch der Eigenbau wäre ihr zu teuer. Unser WG-eigener Naturwissenschaftler bemerkt: Dieses Haus sei ja wohl nichts anderes als die Hipster-Variante eines Wohnwagens.
Pullis und Schals liegen auf dem Boden, der Holzofen wummert, Sauna-Stimmung. Und es ist schön, sich aneinander gekuschelt auf dem Sofa zu fläzen. Wenn ein Auto vorbeifährt, vibriert der Boden unter unseren Füßen und es fühlt sich so an, als könnten wir jederzeit zu einer Weltreise aufbrechen.
Nachts. Es ist, als liefen nächtliche Fußgänger nicht über das Kopfsteinpflaster draußen, sondern direkt durchs Wohnzimmer. Ein bisschen unheimlich, aber auch abenteuerlich. Mein WG-Bett bleibt im WG-Zimmer in unserer Straße in unserem Kiez. Das Häuschen könnte morgen schon woanders parken. Eingepackt in meinen Schlafsack erscheint mir die Idee, mit Mitte zwanzig ein eigenes kleines Haus zu bauen, plötzlich gar nicht so abwegig. Mit romantischen Bildern von einer ewigen Weltreise schlafe ich ein.
Am nächsten morgen kommt die Ernüchterung. Die Glut im Ofen ist über Nacht erloschen, es ist eisig. Mit Mütze und heißem Tee versuche ich, mich aufzuwärmen. Dieses Campingurlaub-Gefühl: Wenn nach dem Aufwachen die Kälte in den Knochen steckt und bis zur warmen Dusche noch ein langer, morgenmuffliger Weg liegt. Mein Abenteuer hat nur eine Nacht gedauert, jetzt freue ich mich auf mein bequemes, dekadentes, riesiges WG-Zimmer.