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Was keiner wissen darf, aber raus muss

Postfach 2553 Tübingen. Dort kommen täglich Postkarten mit intimen Geheimnissen, Rachegelüsten und düsteren Gedanken an. In einer Zeit des Web 2.0 ein einzigartiges Projekt.

Intime Gedanken und menschliche Abgründe: 2000 davon lagern im Wohnzimmer von Sebastian Schultheiß. Seit 2009 veröffentlicht er Postkarten im Internet. Über die Inhalte kann er manchmal selbst nur staunen.

Düsseldorf. Die Idee hinter dem Projekt stammt aus den USA: 2004 startete der amerikanische Künstler Frank Warren im Rahmen einer einmaligen Kunstausstellung eine Aktion, bei der jeder anonym Geheimnisse auf Postkarten an Warrens Privatadresse schicken konnte.

Wegen des großen Erfolgs, wurde „Post Secret“ dann online fortgesetzt, mehrere Bücher hat Warren schon veröffentlicht. Der Künstler wurde sogar auf Hochzeiten seiner Kartenschreiber eingeladen. Nach eigener Aussage ist der Blog der größte werbefreie der Welt und zählt, laut dem Web-Marketing-Unternehmen Technorati, zu den zehn populärsten Blogs des Internets.

2008 holte der studierte Bioinformatiker Sebastian Schultheiß „Post Secret“ nach Deutschland. Um auf dem deutschen Ableger „Post Secret auf Deutsch“ zu landen, muss man die Karte an das Postfach 2553 in Tübingen schicken.

Jeden Sonntag stellt Schultheiß diese dann online. Und dort werden sie gelesen, bisher mehr als 1,8 Millionen mal. Man mag sich fragen: Warum nicht einfach eine E-Mail schreiben? Oder auf Facebook, Twitter und Co. posten?

Die Antwort ist ganz einfach: Hier geht es um Anonymität. Und genau dies ist in Zeiten von NSA-Ausspähaffären, gehackten Kameras oder abgehörten Telefonaten kaum noch gegeben.

„Die meisten haben sich daran gewöhnt und angepasst“, schreibt der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen. „Wir posten, getrieben von kollektiver Faszination und der Sehnsucht nach Feedback, Privates und Intimes auf sozialen Netzwerken. Wir fordern Privatsphäre, aber handeln längst nicht mehr danach.“

Trotz der immer größer werdenden Unsicherheit, was mit unseren Daten passiert und an wen sie weitergegeben werden, reißt die Flut an neuen Karten nicht ab. Es gehe darum, „ein Geheimnis preisgeben zu können und es trotzdem, zum Beispiel gegenüber Freunden, nicht verraten zu müssen“, erklärt der 33-jährige Sebastian Schultheiß sein Projekt gegenüber der Nachrichtenagentur dpa.

Anfang dieser Woche erschien das erste Buch der deutschen Version von „Post Secret“. Der Macher hat sich auf den 208 Seiten ganz auf das Wesentliche konzentriert: die Geheimnisse - nicht mehr und nicht weniger. Die abgedruckten Karten regen zum Nachdenken an.

Leser stellen sich Fragen wie „Wie mag sich der Absender fühlen? Spricht er mit anderen darüber?“ oder „Wer könnte das wohl geschrieben haben?“ Letzteres wird man wohl nie herausfinden können. Ohne Absender, ohne Rückverfolgung. Dieses Konzept kommt an.

Mehr als 2000 Karten lagern, sauber sortiert in nach Jahreszahlen beschrifteten Kartons im Wohnzimmer des Bloggers. Für Tobias Dienlin, Medienpsychologe an der Universität Hohenheim, erfüllt das Verfassen von Postkarten die Funktion eines Tagebuchs.

Das Schreiben könne einen klärenden und erleichternden Charakter haben. Auch der soziale Aspekt verleite Menschen dazu, ihre Geheimnisse öffentlich zu machen. Man bekomme das Gefühl, nicht alleine, sondern Teil einer weltweiten Gemeinschaft zu sein, in der vielleicht sogar jemand dasselbe Problem hat.

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