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Leitartikel: Bürger sind kein Mittel zum Zweck

Mehr als einen Monat liegt die erste Enthüllung des ehemaligen US-Geheimdienstmitarbeiters Edward Snowden nun zurück. Ein Monat, in dem wir von mutmaßlichen gigantischen Ausspäh-Aktionen amerikanischer und britischer Behörden erfahren haben, bei denen es um nahezu alles geht: um Ton- und Video-Dateien, E-Mails, Dokumente, Verbindungsdaten und Glasfaserkabel, heimlich angezapft im Namen des globalen Anti-Terror-Kampfes.

Fragen wirft das vor allem auf, weil quasi jeder von der Überwachung betroffen ist. Auch der viel zitierte "unbescholtene Bürger", der mit Details aus seinem Privatleben im Internet sonst vielleicht sparsam ist. Selbst Software-Riese Microsoft, dessen Programme auf den meisten Computern dieser Welt laufen, soll dem amerikanischen Geheimdienst NSA Zugang zu den E-Mails seiner Kunden gewährt haben. Sofern seine Angaben tatsächlich wahr sind, legt Snowden wie beim Häuten einer Zwiebel Schicht für Schicht das Ausmaß der globalen Überwachung frei.

Was neben dem Wunsch nach Antworten wächst, ist ein diffuses, ungutes Gefühl. Überraschend ist ja gar nicht, dass Privates nicht immer privat bleibt. Schon öfter ist etwa herausgekommen, wie Konzerne ihre Mitarbeiter gefilmt, gerastert und belauscht haben. Verstörend ist, dass bei den aktuellen Fällen ein Staat hinter allem steht – oder vielleicht sogar eine inoffizielle Arbeitsgruppe mehrerer Staaten, inklusive der Bundesrepublik. Man weiß es schlichtweg nicht. Gelten die Deutschen jetzt als 82 Millionen potenzieller Staatsfeinde? Auch wenn das polemisch klingt: Unmöglich ist es nicht.

Dass Snowden am Freitag ausgerechnet mit Menschenrechtlern zusammenkam, ist deshalb nicht nur Ausdruck seines eigenen Problems, der Suche nach Asyl. Es ist auch eine Verdeutlichung dessen, worum es seit seinen Enthüllungen geht.

Fragen wir doch das deutsche Grundgesetz: Können wir trotz der Überwachung weiter das Recht auf die freie Entfaltung unserer Persönlichkeit ausüben (Artikel 2)? Gilt noch die Unverletzlichkeit des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses (Artikel 10)? Wird das Eigentum – in diesem Fall über die eigenen Daten – nach wie vor gewährleistet (Artikel 14)?

Man kann sogar noch weitergehen: Der Mensch sei immer Zweck an sich, er dürfe nie Mittel zum Zweck sein, hat der Philosoph Immanuel Kant gesagt. Doch durch die Spionage-Aktivitäten geschieht genau das. Potenziell jeder Mensch wird zum Verdächtigen und damit ungefragt (!) Mittel zu dem Zweck, eine wie auch immer geartete Terrorgefahr abzuwehren. Ob es dafür rationale Argumente gibt, ist dabei nicht entscheidend, sondern es geht um Grundsätzliches: Zweck an sich zu sein ist nämlich Kern unserer Menschenwürde. Und diese ist laut Grundgesetz unantastbar. "Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt", wie es in Artikel eins Absatz eins deutlich heißt.

Doch wie viel Würde – oder einfacher gesagt: Respekt – wird dem einzelnen Menschen durch die staatlichen Behörden angesichts des Späh-Skandals noch zugestanden? Menschenwürde ist durch das im Internetzeitalter möglich gewordene Überwachungsausmaß nicht mehr das felsenfeste Gut, das es einmal war – und auch das nähert das ungute Gefühl der letzten Wochen massiv.

Das Häuten von Snowdens Zwiebel hat eine Grundsatzfrage hervorgebracht – und zwar die, wie sich die Menschenwürde auch in Zeiten internationaler Bedrohung und unterirdischer Glasfaserkabel schützen lässt. Wir brauchen eine breite, von allen gesellschaftlichen Gruppen getragene Debatte darüber. Das ist ein Mammutprojekt, aber eines, das wichtig ist. Nicht nur für unsere, sondern auch für die künftige Generation.


13.07.2013

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