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Physiotherapie: Krankengymnastik ohne ärztliches Rezept?

Die Therapeuten fordern eine solche Regelung für Deutschland. Doch Ärzte sehen den Direktzugang kritisch und fürchten Behandlungsfehler und steigende Kosten



Verspannter Nacken, schmerzende Schulter, Tennisarm: In vielen Ländern gehen Menschen mit solchen Beschwerden nicht zum Arzt, sondern zu einem Physiotherapeuten. Australien führte den sogenannten Direktzugang als Erstes ein. Seit 1976 können sich Patienten dort ohne ein ärztliches Rezept behandeln lassen. Es folgten die USA, Kanada und viele europäische Länder wie Finnland, Norwegen, Schweden, die Niederlande oder Großbritannien.

"Das Modell funktioniert überall hervorragend", sagt Ute Repschläger, Vorsitzende des Bundesverbandes selbstständiger Physiotherapeuten (IFK). Tatsächlich belegen Studien positive Effekte. In Schweden etwa reduzierte sich durch den Direktzugang die Wartezeit, in Norwegen und England konnte die Verordnung von Medikamenten bei gleichzeitig hoher Zufriedenheit der Patienten gesenkt werden.

Therapeuten fordern Direktzugang

Ginge es nach dem IFK, müssten gesetzlich Versicherte auch in Deutschland bald nicht mehr den Umweg über einen Arzt gehen, bevor ein Physiotherapeut tätig werden darf. Ute Repschläger ist überzeugt, dass alle Beteiligten von einer Neuregelung profitieren würden: die Patienten, weil sie mehr Wahlfreiheit und weniger Wartezeit hätten. Die Ärzte, weil sie entlastet würden. Die Gesellschaft, weil weniger Kosten durch aufwendige Diagnostik wie etwa bildgebende Verfahren entstünden. Und die Therapeuten, weil sie selbstständig auf ihrem Fachgebiet arbeiten und dabei genau die Mittel nutzen könnten, die sie für richtig halten.

Dass sich diese Freiheit positiv auswirkt, zeigte vor Kurzem die Auswertung eines Modellprojekts durch die Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW). Diese hatte untersucht, ob sich Kosten, Dauer und Resultate einer Behandlung verändern, wenn die Therapeuten selbstständig entscheiden dürfen. Etwa darüber, ob der Patient Krankengymnastik, Fangopackungen oder Massagen braucht. "Dabei kam heraus, dass die Behandlungsergebnisse im Mittel mindestens gleich gut sind. Auch die Zufriedenheit der Patienten ist vergleichbar hoch", sagt Professorin Astrid Schämann von der ZHAW. Die Therapiedauer war im Schnitt sogar etwas kürzer. Zudem hätten die Therapeuten oft einen Mix unterschiedlicher Methoden verwendet. Repschläger: "Für uns untermauert das Ergebnis die Forderung nach dem Direktzugang."

Ärzte bestehen auf ihre Diagnosehoheit

Das sieht Matthias Psczolla vom Berufsverband für Orthopädie und Unfallchirurgie ganz anders. "Wir sind irritiert über den Ruf nach einem Direktzugang, weil dieser in dem Modellvorhaben gar nicht untersucht wurde." Tatsächlich geht es in der Studie, die über sechs Jahre lief und 630 Datensätze analysierte, um eine Light-Variante der direkten Lösung: die Blankoverordnung. Sie sieht einen Arztbesuch vor, lässt den Therapeuten dann aber freiere Hand.

Mit der Blankoverordnung könnten sich Ärzte anfreunden, den Direktzugang hingegen lehnen sie ab. "Eine medizinische Diagnose kann nur ein Arzt stellen. Dafür sind Physiotherapeuten nicht ausreichend qualifiziert - die dafür notwendige Kompetenz lässt sich nicht durch die geplanten zusätzlichen Ausbildungsstunden erwerben", sagt etwa Psczolla. Gerade bei Problemen mit Bandscheiben oder Wirbeln könne eine falsche Behandlung schnell schwerwiegende Folgen haben.

Darüber hinaus sieht er Probleme bei Budget- und Haftungsfragen: "Aktuell haften wir Ärzte, wenn eine Diagnose nicht stimmt. Übersehen wir etwa eine Osteoporose und bei der Krankengymnastik bricht ein Knochen, fällt das in unsere Verantwortung." Für die Fehler anderer Berufsgruppen aber wolle kein Arzt einstehen. Auch die Finanzierung sei kompliziert. Bisher verfügen Ärzte über ein festgelegtes Budget, das sie für Physiotherapie-Verschreibungen ausgeben können. Wird es überschritten, laufen die Ärzte Gefahr, dass sie bei den Krankenkassen für Mehrkosten aufkommen müssen. Psczolla: "Aber wer soll bezahlen, wenn die Behandlungskosten durch den Direktzugang ansteigen?"

Blankoverordnung als Kompromiss

Rückendeckung gibt die Kassenärztliche Bundesvereinigung: "Der Direktzugang ist nicht im Interesse der Patienten. Nur ein Arzt kennt ihre komplette Krankheitsgeschichte und kann andere Krankheiten mit ähnlichen Symptomen ausschließen. Das bedeutet Sicherheit für die Patienten. Diagnose und Indikationsstellung müssen deshalb in ärztlicher Hand bleiben", heißt es dort. Reden könne man über eine intensivere Zusammenarbeit und die Blankoverordnung, nicht aber über eine grundlegende Änderung der Zuständigkeiten. Eine Studie der Uni Ulm unterstützt diese Argumentation: Demnach könne nicht einmal die Hälfte der Physiotherapeuten Anzeichen für eine ernste Grunderkrankung erkennen.

Dem widerspricht Ute Merz, Sprecherin des Deutschen Verbands für Physiotherapie (ZVK), heftig. Auch der ZVK fordert den Direktzugang - den Vorwurf mangelnder Kompetenz will sich dort niemand gefallen lassen. "Studien zeigen, dass Physiotherapeuten sehr verantwortungsvoll mit ihrer Rolle umgehen und durchaus in der Lage sind, eigene Diagnosen zu stellen", sagt Merz.

Sie verweist auf ein Modell, das bei Physiotherapeuten mit Heilpraktiker- Zulassung schon jetzt eingesetzt wird - und im Falle eines Direktzugangs dafür sorgen soll, dass kein Patient gefährdet wird: "Jeder Behandlung geht eine gezielte Befragung voraus. Patienten mit unklaren Symptomen oder komplexen Krankheiten werden nicht behandelt, sondern zunächst an einen Arzt verwiesen", erklärt sie.

Diagnostische Ausbildung für Therapeuten

Beide Physiotherapeuten-Vertreter betonen, dass die Blankoverordnung für sie nur ein fauler Kompromiss wäre. "Diese Regelung gibt es sonst nirgends, den Direktzugang hingegen in rund 40 Ländern", so Repschläger. Die Sorgen der Ärzte nehme sie trotzdem ernst. "Selbstverständlich müssten Fragen der Haftung und Finanzierung geklärt werden. Das würden wir in weiteren Modellvorhaben auch gerne tun, aber dafür braucht es die Unterstützung der Politik", sagt Merz. An einer Anpassung der Ausbildung arbeiten die Verbände hingegen bereits. Künftig sollen 60 Stunden in die Ausbildung integriert werden, die sich vor allem der Diagnostik widmen.

Wie der Streit um den Direktzugang ausgeht, ist derzeit noch völlig unklar. Ute Repschläger ist optimistisch: "Wir haben sehr gute Argumente. Und unser Gesundheitssystem kann auf Dauer nur überleben, wenn alle Ressourcen effizient genutzt werden."

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