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Routenbau: So kommen Boulder an die Wand

Am 18. August 2018 bleibt Robert Lux fast das Herz stehen. Es ist kurz nach 20 Uhr, das Worldcup-Finale der Herren in München hat gerade begonnen. Als erster Boulderer hebt Gregor Vezonik vom Boden ab. Die Hände fest an den Startgriffen platziert er vorsichtig erst den linken, dann den rechten Fuß auf einem froschgrünen Volumen. Dann streckt er sich, tastet mit den Fingern nach der Unterseite eines Slopers, drückt seinen Körper nach oben - und braucht danach nur noch Sekunden bis zum Top. Während der Slowene strahlend die Faust in die Menge reckt, wird Robert Lux ganz anders. Erster Boulder, erster Starter, erster Flash. „Der Horror für jeden Routenbauer", sagt er.

Ein paar Monate später sitzt er im Studio Bloc und lacht über den Schreckmoment. „Wenn du einen Wettkampf schraubst, ist das Letzte, was du willst, dass alle deinen Boulder schaffen oder keiner hochkommt", sagt er. Das sei die Herausforderung: Harte, aber machbare Probleme an die Wand zu zaubern. Die die Athleten so zu fordern, dass nachher eine eindeutige Rangfolge entsteht. In München ging die Sache gut aus: Nach Gregor Vezonik schaffte es keiner der Finalisten auch nur bis zum Bonusgriff, schon der Sloper erwies sich als Crux. „Gregor war echt stark unterwegs an dem Tag", murmelt Robert Lux, ist in Gedanken aber bereits woanders: „Hier sind schon vier Schieber, da brauchen wir noch einen Festhalter", ruft er und eilt zur Wand.

Boulderbau im Studio Bloc

Heute ist nicht Wettkampf, sondern Alltag. Im Studio Bloc, das Lux 2014 miteröffnet hat, wird umgeschraubt. Hier soll die Suche nach dem perfekten Boulder beginnen. Was macht einen guten Schrauber aus? Wie verändert sich das Routesetting gerade? Und wie muss eine Linie aussehen, damit die Endorphine tanzen? Robert Lux runzelt kurz die Stirn: „Streben nach Perfektion ist hinderlich", meint er, „da verkopft man zu sehr." Er geht eine leere Wand lieber locker an. „Gutes Schrauben ist eine Mischung aus solidem Handwerk, Können und Erfahrung auf der einen Seite und Kreativität, Freigeist und Intuition auf der anderen." Allerdings ist er überzeugt, dass letzteres nicht ohne ersteres geht. Deshalb darf in seiner Halle nicht jeder zum Akkuschrauber greifen. Wer hier schrauben will, muss eine Routenbau-Lizenz vorweisen oder außergewöhnlich viel Erfahrung und Talent mitbringen.

Seit acht Uhr morgens hantieren Robert Lux und zwei Schrauber an diesem Dienstag mit Volumen, Griffen und Tritten. Dabei folgen sie stets der gleichen Routine: Erst kommen die alten Boulder von der Wand, danach werden die großen Volumen gesetzt. Dann beginnt das eigentliche Schrauben, im Studio Bloc immer von schwer nach leicht. „So verhindert man, dass bei harten Zügen später irgendein Henkel im Weg ist", erklärt Lux. Die nackte Wand ist dabei wie ein leeres Blatt Papier: Alles ist möglich. Einen festen Plan gibt es nicht, allerdings achtet Lux sehr darauf, dass die Gesamtkomposition stimmt. Zum Beispiel dürfen innerhalb eines Schwierigkeitsgrades nur Boulder mit unterschiedlichen Bewegungsmustern nah beieinander geschraubt werden. Ein Slo­per neben einem Leistenknüppler, ein Balanceproblem neben einem Dyno - oder, um es in Roberts Worten zu sagen: ein „Schieber" neben einem „Festhalter".

Sind die Griffe an der Wand, wird jeder Boulder von den anderen gegengeklettert, getestet. Passt die Bewertung? Wie zwingend sind die Züge? Wie größenabhängig ist das Problem? Ist die Linie klar zu erkennen? Ist der Boulder optisch ansprechend? Einige Stunden sind nur für solche Fragen und Anpassungen eingeplant. Am frühen Nachmittag wird der Bereich dann wieder freigegeben. Unterhält man sich mit Robert Lux über das Schrauben, fällt oft das Wort „Professionalität". „Gute Boulder sind das, was wir verkaufen. Dafür brauchen wir Qualität, die nur Profis liefern können", sagt Lux, der früher selbst Wettkampfkletterer war. Inzwischen schraubt er bei Worldcups, zuletzt 2018 in Moskau und München. Das spiegelt sich auch in seiner Halle wider: An der großen Wettkampfwand ziehen sich regelmäßig der deutsche Kader und internationale Teams die Finger lang. Das färbt auch auf den Breitensport-Bereich ab, der mit vielen Volumen, unterschiedlichsten Griffen und nüchterner Optik sehr modern anmutet. „Das eine beeinflusst das andere. Aber im normalen Betrieb schraubt man vor allem für das Gesamterlebnis des Kunden. Da ist Routenbau in erster Linie eine Dienstleistung."

Boulderer wie du und ich

Drei Tage später und 60 Kilometer weiter südlich sieht man die Dinge etwas anders. Es ist Freitag, Umschraubtag im Boulderhaus Heidelberg. Vor der Wand wuselt es, die Bohrer zerrattern die Musik, und von den zwölf Schraubern ist fast die Hälfte da. Wer kann, der kommt, man organisiert sich per Mail. Die Routenbauer hier sind ein bunter Haufen: Männer und Frauen, Junge und Ältere, Kleine und Große, Neulinge und Erfahrene, Kraftballerer und Technikästheten. „Uns kommt es vor allem auf Vielfalt an", sagt Hallen-Chef Andreas Wilke, „wir wollen unser Publikum im Schrauberteam möglichst genau abbilden." Die Idee ist simpel: Wenn unterschiedliche Typen schrauben, ist am Ende für alle etwas dabei. Katha etwa arbeitet gerne mit Fingerlöchern und kleinen Leisten, Leander legt selbst bei schweren Bouldern viel Wert auf Bewegungsfluss, Johannes kombiniert gerne kräftige Züge mit delikaten Hooks. Jeder hier hat viele Ideen, niemand eine Lizenz. „Ich bin überzeugt, dass nicht nur Profis gut schrauben können", meint Wilke. Zwar würde die Qualität der Boulder und die Homogenität der Schwierigkeitsgrade so stärker schwanken. „Aber wir wollen ohnehin nicht, dass die Leute hier nur auf die Bewertung schielen. Das entspricht nicht unserer Philosophie", erzählt er.

Philosophie ist wichtig an diesem Ort. Das Boulderhaus ist ein Wohnzimmer der Community, die Atmosphäre entsprechend anders: Mehr Punk als Profi, mehr Lifestyle als Business, mehr Spaß als Seriosität. Von der Decke baumelt eine Diskokugel, neben dem Moonboard steht ein Tischkicker, und wenn mal Boulderstars vorbeikommen, müssen sie Eintritt zahlen wie jeder andere. Statt sich strikt an ein Farbschema zu halten, drückt man den Kunden öfter mal einen Laufzettel in die Hand, auf dem sie selbst über die Bewertung der Boulder entscheiden können: Schwierigkeit, technischer Anspruch, Spaßfaktor. Nach einer Woche werden die Ergebnisse dann ausgehängt. „Das ist ein gutes Feedback für die Schrauber und sensibilisiert die Kunden dafür, wie subjektiv Bewertungen sind", sagt Wilke. Kraft, Größe, Spannweite, Vorlieben - es gibt viele Faktoren, die beeinflussen, wie man einen Boulder empfindet.

Springen und Laufen versus Leistenknüppeln

Zwei erfolgreiche Hallen, zwei völlig unterschiedliche Konzepte. Einig sind sich die Routenbauer beider Häuser nur in wenigen Punkten. Erstens: Gutes Schrauben ist ein Drahtseilakt. Fordernd muss ein Boulder sein, aber machbar. Tüftelig, aber nicht zu kompliziert und Beta-tauglich. Zweitens: Ein aufgeblasenes Ego ist hinderlich. Schließlich schraubt man nicht für sich, sondern für andere. Drittens: Welche Techniken und Skills man auch abfragt, Bewegungsintuition und Fluss sollten erhalten bleiben. Viertens: Ein gutes Problem folgt einer Idee, die konsequent durchgezogen wird.

Von außen betrachtet gibt es noch mehr Gemeinsamkeiten. Trends und Entwicklungen etwa, die vor keiner Halle Halt machen. „Nie zuvor hat sich das Bouldern so rasant verändert wie in den letzten Jahren", meint etwa Udo Neumann, Trainerlegende und ehemaliger Coach des deutschen Boulderkaders. Diente es früher als Klettertraining oder Vorbereitung für den Fels, hat sich Hallenbouldern heute als eigene Disziplin etabliert. Mehr noch: Es boomt gewaltig - und viele, die heute damit anfangen, fassen in ihrem Kletterleben nie etwas anderes als Plastik an. Damit sind die Ansprüche an den Boulderbau gestiegen. Längst nicht mehr soll das Bouldern nur Muskeln und Finger stählen, sondern das Bewegungsspektrum des menschlichen Körpers ausreizen, knifflig sein und dabei Spaß machen. Diese Entwicklung beeinflusst nicht nur die Art der Griffe, sondern auch den Routenbau selbst.

„Die größte Revolution waren in dieser Hinsicht Volumen", so Neumann. Diese meist pyramidenförmigen Holzkisten lassen sich easy aufschrauben und verändern die Topographie der Wand. Auf einmal gewannen bei Kletter-Wettkämpfen nicht mehr Boulderer mit der meisten Kraft, sondern talentierte und bewegliche Athleten, die ihren gesamten Körper einzusetzen wissen. Außerdem haben Volumen mehr Varianz und Fairness in den Sport gebracht, weil sie morphologische Züge weniger zwingend machen: Ein Volumen kann man schließlich an vielen Stellen anpacken. „Die Zeiten von rechts-links-rechts-links kleine Griffe wegknüppeln sind vorbei", sagt Neumann. Er persönlich findet das wunderbar: „Modernes Bouldern ist dreidimensional und ganzheitlich, beinhaltet neben körperlichen auch kognitive Herausforderungen und schöpft den Bewegungsschatz aus." Den Routenschraubern verlange das aber einiges ab, „die Besten agieren mit chirurgischer Präzision", sagt er, denn im modernen Routenbau entscheiden oft Nuancen über Machbarkeit und Qualität.

Alles Zirkus, oder was?

Befeuert wird diese Entwicklung von den Olympischen Spielen 2020, bei denen Klettern erstmals vertreten sein wird. Spektakuläre Sprünge und akrobatische Verrenkungen sind sicher publikumswirksamer als stures Blockieren und Anreißen. Doch nicht alle finden diese Entwicklung gut. Andreas Wilke vom Boulderhaus betont: „Wir wollen uns der Popularität des Boulderns nicht verweigern, aber auch nicht jeden Trend mitmachen. Es ist kein Zufall, dass unsere stärksten Leute nicht auf Wettkämpfen unterwegs sind, sondern draußen am Fels." Auch alte Haudegen murren ob der „Zirkusturnerei" bei Worldcups. Klettercoach Ludwig „Dicki" Korb kritisiert, dass Wettkampfbouldern mit den Bewegungen am Fels kaum noch etwas gemein habe. Udo Neumann hält dagegen: „Bewegungstechnisch ist die aktuelle Richtung eine Befreiung." Vielleicht ist auch dies eine Erkenntnis: Fels und Plastik haben heute weniger gemein, der Sport entwickelt sich zunehmend in zwei Richtungen. Und mit ihm das Lebensgefühl, das daran hängt.

Warum muss man überhaupt von Wettkampf reden, wenn es um Breitensport geht? „Weil das eine das andere beeinflusst", sagt Joseph Wetzel von der Firma Kletterkultur. Er schraubt nicht nur selbst, sondern gibt auch Workshops für Schrauber und designt Griffe für „bluepill". „Neuheiten kommen oft aus dem Wettkampfbereich. Dort schrauben Profis, die tief in der Materie stecken. Ihre Arbeit wird in der Szene wahrgenommen und in den Hallen adaptiert", sagt er. Das hat natürlich seine Grenzen, die wenigsten Hallen sind Blaupausen des Wettkampfsports. Trotzdem verändert sich etwas, nicht zuletzt durch das Publikum. „Heute stehen Spiel, Spaß und vielfältige Bewegungen im Mittelpunkt, es geht um Emotionen und Erfolgserlebnisse." Was aus seiner Sicht einen guten Schrauber ausmacht? „Was zählt, ist das Gefühl für Bewegungsabläufe und eine gute Portion Kreativität." Hilfreich findet Joseph Wetzel auch Erfahrung am Fels, weil darin viel Inspiration steckt. „So gesehen bleiben Felsen auch dann wichtig, wenn es um Plastik geht", so sein Fazit.

Joseph Wetzel über das Ucycling von Klettergriffen

„Vor zwei, drei Jahren ist die Idee entstanden, abgenutzte Klettergriffe und GFK-Volumen wieder aufzubereiten, sie also mit neuem Glanz und Reibung zu versehen. Wenn sie gebrochen oder Kanten abgeplatzt sind, Sicherheitsnormen nicht mehr erfüllen oder mit ihrer Form als veraltet gelten, landen die Griffe ja sonst einfach im Müll. Das Material kann nicht groß wiederverwertet werden - durch das Upcycling werden die Griffe immerhin länger genutzt. Mit unserem Service können Hallenbetreiber deshalb etwas für die Umwelt tun und gleichzeitig ihr Budget schonen. Im Vergleich zum Neupreis eines Griffes sparen sie durch das Upcycling etwa 60 bis 80 Prozent der Kosten. Entsprechend steigt auch die Nachfrage nach diesem Angebot. Trotzdem ist der Upcycling-Markt für Klettergriffe noch eine kleine Nische. Mit der Aufbereitung lässt sich kein großes Geld verdienen, aber der Aspekt der Nachhaltigkeit ist uns sehr wichtig. Außerdem können wir den Hallenbetreibern so einen Rundum-Service anbieten aus Routen-, Boulderwand- und Mattenbau, Vertrieb, Workshops, Griffereinigung und eben Upcycling. Die Betreiber schicken uns dafür alte Griffe, die keine Reibung mehr haben oder verblichen sind. Wir tragen dann eine Schicht aus Kunstharz, Sand und Farbe auf. Sie funktioniert fast wie Sandpapier und fühlt sich auch sehr ähnlich an. Wie sehr unser Service das Leben der Griffe und Volumen verlängert, lässt sich nicht pauschal sagen. Das hängt stark von den Produkten als solches ab: vom Material, der Nutzungsintensität, der Lagerung und besonders dem Umgang. Grundsätzlich gilt, dass sich der Aufwand eher bei größeren und cleaneren Griffen lohnt. Bei einer filigranen Felsstruktur ist das Upcycling deutlich aufwendiger als bei einem glatten Element. Für einen Laien ist der Unterschied zwischen einem neuen und einem upgecycelten Griff im Gebrauch kaum zu erkennen. Nur geübte Routenbauer merken, dass die Haptik etwas anders ist. Nicht besser, nicht schlechter, einfach anders."

Joseph Wetzel ist Mitgründer von „Kletterkultur". Die Firma aus Blaubeuren produziert und vertreibt Kletterstrukturen, liefert Griffe und Volumen für Boulder- und Kletteranlagen und baut Routen für den Hallenalltag oder für Wettkämpfe. Abgenutzte Klettergriffe werden von den Kletterfreunden gereinigt oder neu beschichtet.

Wie werde ich Routenbauer?

Den Königsweg zum Routenbauer gibt es nicht, denn es ist kein staatlich anerkannter Ausbildungsberuf. Wer im Breitensport schrauben will, kann beim DAV eine Ausbildung zum Routenbauer für den Breiten­­sport machen. Sie beinhaltet zwei Lehr­gänge, eine Praxisphase und eine Prüfung. Auch möglich: einfach mal in der Lieblingshalle nachfragen. Viele Schrauber haben ehrenamtlich angefangen, manche Hallen bieten Praktika an. Wer sich gut anstellt, Kritik abkann und teamfähig ist, hat durchaus Chancen auf einen Platz im Schrauberteam. Auch geben viele Profis ihr Wissen in Workshops weiter.

Bei offiziellen Wettkämpfen ist die Sache komplizierter. Dort dürfen nur lizenzierte Routenbauer schrauben - die Lizenzen aber werden nach Bedarf vergeben und sind damit auch Glückssache. Der Weg sieht so aus: Erst macht man beim DAV eine Ausbildung zum Landesroutenbauer, die aber nur unregelmäßig angeboten wird. Bewährt man sich anschließend, kann man zum nationalen Routenbauer und danach zum nationalen Chefroutenbauer ernannt werden. An die internationale Lizenz kommt man über den Internationalen Dachverband für das Wettkampfklettern (IFSC). Dafür muss man aber von einem nationalen Verband vorgeschlagen werden. Wird man dies, muss man seine Fähigkeiten zwei Jahre als Junior-Routesetter unter Beweis stellen. Danach ist man IFSC-Routesetter, die Krönung ist dann der Chief-Routesetter.

Doch selbst wer überirdisch gut schraubt und viel Erfahrung hat, kann eine solche Karriere nicht planen. Beide Verbände bilden nämlich nur nach Bedarf aus. Aktuell hat der DAV 30 lizensierte Routenbauer. Mehr braucht der Verband nicht, weil im Routenbau eine gewisse Kontinuität herrschen soll. Beim IFSC ist es ähnlich: Viele nationale Chefschrauber gieren nach einer IFSC-Lizenz, haben derzeit aber keine Chance, weil keine Schrauber gebraucht werden. Die Konkurrenz ist also knüppelhart und niemand kann vorhersagen, ob es mit dem Weg an die Spitze klappt.

Die Routenbauer vom Adidas Rockstars Wettkampf erklären ihre Arbeit
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