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Krankes Erbe: Leben mit Chorea Huntington

Der Brief kommt an einem Donnerstag im Mai. Sandra Richard zieht ihn aus dem Postkasten und schafft es kaum zurück in ihre Wohnung. Ihr Herz hämmert, die Kehle ist eng. Drei Monate hat sie auf die Sendung gewartet, jetzt wünschte sie, der blassgrüne Umschlag hätte sie nie erreicht. Eine Zahl in seinem Innern wird über ihr künftiges Leben entscheiden. Sie gibt die Wiederholungen eines Gens an, das für die seltene Nervenkrankheit Chorea Huntington verantwortlich ist. Das Leiden zerstört Gehirnzellen und zerfrisst jene Areale, die für Sprache, Motorik und Persönlichkeit zuständig sind. Der Verlauf ist tödlich, eine wirksame Behandlung gibt es nicht. Sandra Richards Großvater ist daran gestorben, auch ihr Vater hatte sie - erst mit seiner Diagnose erfuhr die Familie überhaupt von der erblichen Krankheit.

Schlummert sie auch in Sandras Genen? Das Risiko dafür liegt bei 50 Prozent, Klarheit bringt ein genetischer Test. Ein paar Tropfen Blut genügen, um Chorea Huntington auf die Spur zu kommen. Das geht schnell, die Warterei hat einen anderen Grund: Drei Monate sind gesetzlich vorgeschrieben, damit sich Betroffene doch noch gegen die Gewissheit entscheiden können.

Es dauert eine Weile, bis Sandra das medizinische Kauderwelsch in dem Brief entschlüsselt hat: Sie hat die Krankheit. Bis zu 30 Genwiederholungen sind normal, bei ihr sind es 39. Zu viel. Immerhin: Wahrscheinlich wird sie die Krankheit erst im Alter bekommen. Wann genau, kann niemand sagen.

Selten und häufig zugleich

Die Gnadenfrist, die das Nervenleiden Chorea Huntington den rund 8000 Betroffenen in Deutschland lässt, ist eher ungewöhnlich. In 80 Prozent der Fälle sind seltene Krankheiten genetisch bedingt, viele leiden von Geburt an unter den Folgen eines Gendefekts, die Leiden belasten Familien sehr. Als selten gilt eine Krankheit in Europa, wenn nicht mehr als fünf von 10 000 Menschen betroffen sind. Das klingt nach wenig, doch allein in Deutschland leiden in Summe etwa vier Millionen Menschen unter einer der 8000 bisher bekannten seltenen Krankheiten. „Es handelt sich um eine große, aber sehr gemischte Gruppe", sagt Professor Heiko Krude, Leiter des Centrums für Seltene Erkrankungen an der Berliner Charité. Denn jede Krankheit sei anders: Bei Mukoviszidose etwa verstopft zäher Schleim die Organe, bei der als „Schmetterlingsleiden" bekannten Krankheit Epidermolysis bullosa lösen sich die Hautschichten voneinander ab, bei einer Aniridie bildet sich die Iris des Auges nicht richtig aus. Manche Diagnosen sind häufiger, andere werden weltweit nur ein- oder zweimal gestellt. „Immer wieder sehen wir außerdem Patienten mit völlig unklaren Symptomen", berichtet Krude.

So unterschiedlich die Erkrankungen und ihre Symptome auch sind, so sehr ähneln sich die Probleme der Betroffenen. „Für fast alle gibt es zu wenig Informationen, Experten und Medikamente", sagt Christine Mundlos vom Verein Achse, der sich für die Belange Betroffener einsetzt. „Alles in unserem Gesundheitssystem ist auf häufige Erkrankungen ausgerichtet, weshalb Menschen mit seltenen Krankheiten oft einfach durch das Raster fallen", so die Medizinerin. Das beginnt schon mit der Diagnose: Oft vergehen Jahre und unzählige Arztbesuche, bis überhaupt klar ist, woran ein Patient leidet. Hat die Krankheit dann endlich einen Namen, geht die Odyssee weiter. „Es ist schwierig, an Informationen zu kommen, die oft nur auf Englisch und in speziellen Datenbanken verfügbar sind. Auch die Suche nach einem medizinischen Experten ist eine Herausforderung, denn sie sind ebenso selten wie manche Krankheitsbilder", so Mundlos. Das größte Problem aber sind fehlende Medikamente und Therapien, für über 90 Prozent der seltenen Erkrankungen gibt es keine wirksame Behandlung. Das hat den Patienten den Beinamen „Waisen der Medizin" eingebracht. Nach wie vor sind viele von ihnen auf sich gestellt: „In Deutschland mangelt es an geeigneten Betreuungsstrukturen für diese Patienten, alles ist zu sehr dem Zufall überlassen", sagt Mundlos.

Auch Sandra Richard fühlte sich nach dem Test alleingelassen. Erst versank sie in Wut und Trauer, dann stürzte sie sich in die Arbeit. „Ich wollte nicht mehr nachdenken, sondern einfach nur noch funktionieren." Als sie vier Jahre nach dem Test ihren Mann Paul kennenlernt, wendet sich ihr Leben wieder zum Positiven. „Er ist mein Anker im Leben, hat mir wieder eine Perspektive gegeben und bremst mich, wenn ich mich zu sehr in die Krankheit hineinsteigere." Sie wird schwanger - was eigentlich eine schöne Nachricht ist, denn nach einer Entzündung der Eileiter hatten die Ärzte eine Schwangerschaft eigentlich ausgeschlossen. Sandra aber bricht zusammen. Lange Zeit treibt sie nur ein Gedanke um: „Was, wenn mein Kind auch krank ist?" Paul beruhigt sie: „Wir kriegen das hin, es soll wohl so sein."

Wer soll das bezahlen?

Seltene Erkrankungen sind komplex und chronisch, erfordern hochmoderne Diagnostik und langwierige, komplizierte Behandlungen. Kurzum: sie sind teuer. „Typischerweise benötigen die Patienten mehrere Fachärzte, weil sich die Krankheit vielfältig auswirkt", sagt Krude. An der Charité läuft ein Modellprojekt, in dem Ärzte unterschiedlicher Fachrichtungen Patientenfälle bei einer „Fallkonferenz" diskutieren. Eine Leistung, die nach jetzigen Standards nicht abrechenbar ist.

Ginge es nach dem Nationalen Aktionsbündnis für Menschen mit Seltenen Erkankungen ( NAMSE), wäre das anders. Es wurde 2013 auf den Weg gebracht, wird vom Gesundheitsministerium finanziell unterstützt und soll Patienten und Ärzte vernetzen, Informationen bündeln, spezialisierte Zentren aufbauen und die Forschung fördern. Denn unter regulären Bedingungen ist es für Unternehmen wenig attraktiv, Medikamente gegen seltene Erkrankungen zu entwickeln - die Märkte sind klein und machen es schwer, die Ausgaben zu decken. Medikamente gegen häufige Krankheiten wie Asthma, Krebs oder Diabetes sind lukrativer. Lange war zudem sehr wenig über die meist erblich bedingten seltenen Krankheiten bekannt. „Bis zur Entschlüsselung des menschlichen Genoms konnten wir nur im Nebel stochern", sagt Siegfried Throm vom Verband forschender Arzneimittelhersteller ( VfA).

Um das Jahr 2000 herum gab es zwei Durchbrüche: In den USA dekodierten Forscher das menschliche Erbgut. Fast zeitgleich beschloss die EU-Arzneimittelbehörde die Förderung der Entwicklung von Medikamenten gegen seltene Erkrankungen. „Seitdem hat sich die Zulassung der sogenannten Orphan Drugs erhöht und auf etwa 14 im Jahr für Europa eingependelt", sagt Throm. Die Wirkstoffe machen damit zwar rund ein Viertel der neu zugelassenen Arzneien aus, ihre Auswirkungen auf den Umsatz der Firmen bleiben aber gering: 2017 entfielen in Deutschland nur 3,7 Prozent der Arzneimittelausgaben von Krankenkassen auf seltene Krankheiten.

„Eine wahnsinnige Angst"

Der kleine Markt ist nicht das einzige Problem. „Es gibt nur wenige Experten, die zudem in der ganzen Welt verstreut leben. Zudem fehlt es an strukturierten Informationen, standardisierten Datenbanken - und es ist schwer, genug Patienten für Studien zu finden", erläutert Throm. Aussichtsreich könnten zum Beispiel Stammzell- und Gentherapien sein, in die viele Betroffene große Hoffnungen setzen. Auch Bettina Eckart fragt sich oft, ob eine solche Therapie den Ausbruch ihrer Krankheit verhindern könnte. Experten indes dämpfen die Erwartungen. „Die Fortschritte in den letzten zehn Jahren sind zwar positiv", sagt Heiko Krude von der Charité. „Wir wissen aber einfach noch zu wenig über die genauen Zusammenhänge."

Fünf Jahre nach dem Start des Aktionsbündnisses und fast 20 Jahre nach dem Start der EU-Förderung fällt die Bilanz gemischt aus: „Es hat sich viel verändert, aber der Schwung ist raus", so Achse-Sprecherin Christine Mundlos. Die Finanzierung durch das Ministerium laufe dieses Jahr aus, und noch ist unklar, wie es weitergeht. Dabei gäbe es viele Baustellen: Eine Zertifizierung der 27 Zentren nach einheitlichen Standards, die Fortbildung von Ärzten, schnellere Diagnostik und Behandlung von Betroffenen, mehr Geld für die Forschung. „Wir müssen NAMSE am Laufen halten und Stillstand verhindern", sagt Mundlos, „sonst werden Menschen mit seltenen Krankheiten auch weiterhin Waisenkinder der Medizin bleiben."

Sandra Richard hofft, dass es anders kommt. Auch für ihre Tochter, die mittlerweile sechs Jahre alt ist. „Seit Leni auf der Welt ist, zweifle ich nicht mehr daran, dass es richtig war, ihr das Leben zu schenken", sagt sie. Trotzdem macht sie die Angst an manchen Tagen fast wahnsinnig. Noch ist völlig unklar, ob Leni die Krankheit hat. Ein Test ist erst ab dem 18. Lebensjahr möglich und erlaubt; Betroffene entscheiden selbst, ob sie ihn machen wollen. Bis es so weit ist, wird also noch etwas Zeit vergehen. „Vielleicht sieht die Welt bis dahin für uns Seltene ja schon etwas hoffnungsvoller aus", sagt Sandra Richard, „und bis dahin leben wir einfach, so gut es geht, im Hier und Jetzt."

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