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Oxytocin: Mehr als ein Kuschelhormon

Das "Bindungshormon" stärkt das Vertrauen und fördert soziale Bindungen. Doch Oxytocin kann noch viel mehr - womöglich sogar bei Autismus und sozialen Phobien helfen. Was bringen Oxytocin-Nasensprays?


Oxytocin beeinflusst unser Leben schon, bevor es überhaupt beginnt: Beim Sex flutet das Gehirn den Körper mit dem Neurohormon, was die Lust steigert und beim Orgasmus für ein Gefühl tiefer Verbundenheit mit dem Partner sorgt. Entspringt dem Liebesspiel später ein Kind, arbeitet der Hypothalamus erneut auf Hochtouren. In dieser Hirnregion wird das für die Geburt unabdingbare Oxytocin produziert. Es leitet die Wehen ein, stimuliert die Milchproduktion, ermöglicht das Stillen und stärkt die Bindung zwischen Mutter und Kind. Diese Aufgaben unterstreicht auch sein Name: Oxytocin bedeutet im Altgriechischen "schnelle Geburt".

Oxytocin wirkt sich vielfältig im Körper aus

Kein Wunder, dass es jahrzehntelang vor allem als Wehen- oder Frauenhormon bekannt war. "In der Geburtshilfe spielt es noch heute eine wichtige Rolle, etwa bei Wehenschwäche oder langsam voranschreitender Geburt", sagt Professorin Inga Neumann, Neurobiologin an der Universität Regensburg. Heute aber wissen Forscher, dass sich die Wirkung des Hormons mitnichten auf das Gebären beschränkt. Im Gegenteil: "Oxytocin spielt für das Zusammenleben aller Menschen eine große Rolle. Es wirkt prosozial, fördert also ein positives soziales Miteinander", sagt Neumann. Oxytocin stärkt zum Beispiel die Paarbindung und das Vertrauen in andere Menschen, reduziert Stress und Angst, dämpft Aggressionen und macht uns empathisch. Eine Liste, die dem Hormon den Beinamen "Kuschelhormon" beschert hat.

"Kuschelhormon ist zwar nicht falsch, greift aber doch zu kurz", sagt Professor Markus Heinrichs von der Universität Freiburg. Der Psychologe gilt als Vorreiter der Oxytocin-Forschung beim Menschen. 2005 setzte er mit einer Arbeit zur vertrauensfördernden Wirkung des Hormons den Startschuss für einen weltweiten Forschungs-Boom. Davor hatten sich vor allem Tierforscher mit Oxytocin befasst, von denen auch heute noch viele wichtige Erkenntnisse und Impulse für die Humanforschung stammen. So fand Neumann zum Beispiel heraus, dass Oxytocin bei Mäusen traumatische soziale Erfahrungen auslöschen kann. Könnte dieser Mechanismus auch beim Menschen funktionieren?

Das ist zumindest eine von vielen Hoffnungen, die Forscher umtreibt. "In den vergangenen Jahren wurden extrem viele Studien durchgeführt und inzwischen arbeiten weltweit über 100 Forschergruppen zu Oxytocin", sagt Heinrichs. Das sei einerseits gut, weil es neue Erkenntnisse bringt und die Forschung vorantreibe. Andererseits gäbe es viele qualitativ minderwertige oder fehlerhaft interpretierte Arbeiten.

Macht das Kuschelhormon auch aggressiv?

Was also weiß die Wissenschaft bisher sicher über das Hormon? Als bestätigt gilt seine prosoziale Wirkung. Ein Stoß aus einem Hormon-Nasenspray reicht mitunter aus, um Menschen tendenziell vertrauensseliger und einfühlsamer zu machen. "Es ist ein Hormon der Nähe, welches von entscheidender Bedeutung bei Blickkontakt, Empathie oder angenehmen Berührungen ist", sagt Heinrichs. Immer wieder tauchen aber auch Zweifel auf: Eine niederländische Arbeit etwa legte 2011 nahe, dass Oxytocin Misstrauen und Aggressionen zwischen Mitgliedern verschiedener sozialer Gruppen schürt. Schnell war in den Medien von den "dunklen Seiten" des Kuschelhormons die Rede.

"Ein vorschnelles Urteil infolge falscher Interpretation", betont Neurowissenschaftlerin Neumann, "denn die eigene Gruppe oder Familie nach außen zu schützen und notfalls zu verteidigen, gehört evolutionsbiologisch zu den wichtigen Aufgaben des Neuropeptids." Sie nennt als Beispiel eine Stute, die aggressiv auf Eindringlinge reagiere, um ihr Fohlen zu schützen. Auch Heinrichs erläutert, dass die Ergebnisse schlicht falsch interpretiert wurden: "Die eigene Gruppe zu bevorzugen, lässt sich nicht mit Aggression gleichsetzen."

Könnte das Hormon Autisten und Sozialphobikern helfen?

Also doch alles kuschelig? Vieles spricht dafür, weshalb aktuell viel zum therapeutischen Potenzial des Hormons geforscht wird. Geprüft wird zum Beispiel der Einsatz bei sozialen Angststörungen, Autismus, Depressionen, Schizophrenie und der Borderline-Persönlichkeitsstörung. Vor allem bei Sozialphobien und Autismus könnte Oxytocin helfen. Französische Forscher konnten 2010 zeigen, dass Oxytocin die sozialen Fähigkeiten von Autisten verbessert. Dank des Hormons konnten sie länger Blickkontakt halten und ihr Gegenüber besser einschätzen. An größeren klinischen Studien zum Thema mangelt es aber noch.

"Die Forschung dazu steckt noch in den Kinderschuhen", sagt Psychologe Heinrichs. Zunächst gelte es, die Wirkmechanismen des Hormons genauer zu untersuchen und offene Fragen zu klären. So gibt es zum Beispiel noch keine Langzeitstudien, auf deren Basis sich die dauerhafte Gabe des Hormons beurteilen ließe. Außerdem lassen bisherige Studien die individuellen hormonellen Prozesse des Menschen außer Acht. "Nicht jeder Mensch ist gleichsam empfindlich für Oxytocin, weil die Rezeptoren unterschiedlich reagieren", erklärt Heinrichs. Auch Neurobiologin Neumann sieht noch viele Fragezeichen: "Vor seinem klinischen Einsatz wäre es zum Beispiel wichtig zu wissen, wie eine künstliche Gabe von Oxytocin über das Nasenspray, vor allem über längere Zeiträume hinweg, das körpereigene Hormonsystem verändert." Schließlich überstiegen die in der humanen Forschung eingesetzten Mengen den normalen Hormonspiegel um das Zehn- bis Hundertfache.

Finger weg von Nasensprays mit Oxytocin!

Beide Experten raten dringend davon ab, im Internet angepriesene Oxytocin-Sprays zu verwenden. Zum einen wisse man nicht, was genau darin enthalten sei. Zum anderen sei es ein Trugschluss, dass die bloße Einnahme von Oxytocin reiche, um Beziehungen zu verbessern oder das Sozialverhalten von Autisten zu normalisieren. "Oxytocin kann nur bei bestimmten Menschen und in Kombination mit einer geeigneten Psychotherapie helfen", betont Heinrichs. Er sieht zwar gute Chancen, dass das Hormon künftig Einzug in die Therapie finden könnte, bewertet den Einsatz aber noch als verfrüht. "Es wird noch viel Zeit, Geld und Geduld nötig sein, bis dieses sehr komplexe Hormon ausreichend gut erforscht ist."

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