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Künstliche Netzhaut: Lichtblick für Blinde

Dank technischer Hilfe erkennt Jeroen Perk wieder Formen und Kontraste. Für den erblindeten Niederländer ein Riesenerfolg


Die Brille macht dem Vierbeiner Pedro Konkurrenz. Früher wurde Jeroen Perk oft auf den Blindenhund an seiner Seite angesprochen. Jetzt interessieren sich die Menschen mehr für die tiefschwarze Brille vor seinen Augen. Ein Kästchen an ihrer Seite, ein zur Hüfte laufendes Kabel und ein Punkt über der Nase verraten, dass es sich dabei nicht um ein modisches Accessoire handelt. "Manche finden, ich sehe damit aus wie ein Superheld oder eine Star-Wars-Figur", erzählt Perk lachend. Doch wenn er neugierigen Nachfragern im Bus, beim Einkaufen oder Spazierengehen erklärt, was es mit der Brille auf sich hat, ist das Staunen groß. Schließlich soll sie nicht weniger als Blinde sehend machen.

Ein Schrittmacher für die Netzhaut

Mit diesem Anspruch traten Forscher an, als sie Mitte der 90er-Jahre begannen, eine Art Schrittmacher für die Netzhaut zu entwickeln. 20 Jahre später ist klar: Sie haben einen Teilerfolg errungen. Den normalen Seh­­eindruck können sie zwar nicht annähernd wiederherstellen. Aber die Netzhaut-Implantate geben blinden Menschen ein paar Prozent Sehkraft zurück. Niemand kann den Unterschied besser nachempfinden als ­Jeroen Perk. Er kennt beides: Bis zu seinem elften Lebensjahr hatte er eine normale Kindheit, die sich vor allem um Fußball, Schwimmen und Wasserball drehte. "Sport war für mich das Größte", erinnert er sich. Doch als ihm beim Wasserball auf einmal das Fangen schwerfällt und in der Dämmerung die Konturen der Welt vor seinen Augen verschwimmen, vereinbaren die Eltern einen Termin beim Augenarzt.

Die Diagnose ist niederschmetternd: Retinitis pigmentosa. Eine Krankheit, bei der die lichtempfindlichen Sinneszellen im Auge unaufhaltsam verkümmern. Wegen eines Gendefekts versagen erst die für das Sehen bei Dunkelheit zuständigen Stäbchen ihren Dienst, später die für Farbwahrnehmung und Lesen wichtigen Zapfen.

Mit 18 Jahren fast blind

In Deutschland leiden 30.000 bis 40.000 Menschen unter dieser Krankheit, die oft zur vollständigen Erblindung führt. Meist zieht sich der Verlust der Sehkraft über Jahrzehnte hin, bei Perk aber geht es schneller. "An meinem 18. Geburtstag hatte ich bereits 90 Prozent meines Augenlichts verloren."

Ein Schicksal, mit dem er lange kämpft. Als Jugendlicher zieht er sich zurück, leidet unter depressiven Verstimmungen und dem Gefühl der Ungerechtigkeit. Warum soll die Welt ausgerechnet für ihn immer farbloser und unschärfer werden? Erst mit 20 kann er sich mit seiner Situation allmählich arrangieren. "Ich musste eine Entscheidung treffen: daran zerbrechen oder für ein normales Leben kämpfen." Er lernt die Brailleschrift für Blinde, schreibt sich an der Universität ein, legt sich einen Taststock und einen Führhund zu. Sein Ziel: selbstständig leben.

Während der junge Holländer neuen Mut fasst, macht die Forschung Fortschritte. Zwei Implantat-Typen wecken in Studien Hoffnung. 2005 und 2007 werden sie erstmals erfolgreich bei Patienten implan­­tiert und erhalten die Zulassung für Europa. Beide Implantate reizen die verbliebenen Nervenzellen in der Netzhaut und erzeugen so einen Seheindruck im Gehirn.

Die Dunkelheit durchbrechen

Im März 2013 wird Jeroen Perk, mittlerweile 35 Jahre alt und Computerspezialist bei der Steuerbehörde, darauf aufmerksam. Ein Kollege leitet ihm einen Artikel über das Implantat weiter. "Wäre das nicht was für dich?", steht in der Mail, die der Computer ihm vorliest. Schnell ist für Perk die Sache klar: Alles, was die Dunkelheit um ihn herum durchbrechen kann, ist einen Versuch wert. Er vereinbart einen Termin in der Augenklinik, um abzuklären, ob das Verfahren für ihn infrage kommt. Drei Monate später wird er in Amsterdam unter Vollnarkose operiert. Zweieinhalb Stunden brauchen die Ärzte, um das Implantat, das kaum mehr als einen halben kleinen Fingernagel misst, auf der Netzhaut seines rechten Auges zu verankern (siehe Grafik).

In Deutschland verwendet zum Beispiel Professor Peter Wiedemann das Implantat. Der Leiter der Klinik für Augenheilkunde an der Univer­sität Leipzig hat gute Erfahrungen damit gemacht. Trotzdem warnt er vor übertriebenen Erwartungen: "Die Ergebnisse variieren je nach Patient und sind mit normalem Sehen nicht vergleichbar."

Das Erste, was Jeroen Perk nach der Operation sieht, sind die Konturen eines weißen Arztkittels an seinem Krankenbett. Noch in der Klinik findet das "fitting" statt, bei dem die Elektroden passend für seine Netzhaut eingestellt werden. Er erhält die schwarze Brille, auf der eine kleine Kamera montiert ist. Mit dieser kann er seine Umgebung scannen. Dazu bewegt er den Kopf langsam nach rechts und links, oben und unten. Den kleinen Computer, der die Video­bilder empfängt, trägt Perk wie einen Gürtel um die Hüfte. Er ist etwas größer als eine Zigarettenschachtel und verfügt über verschiedene Einstellungsoptionen. Perk kann damit zum Beispiel Kontraste verstärken oder Kanten hervorheben.

Das Sehen neu lernen

Die vom Computer verarbeiteten Signale gelangen schließlich zu Elektroden auf der Netzhaut, die wiederum die verbliebenen Netzhautzellen mit elektronischen Impulsen stimulieren. Im Gehirn löst das die Wahrnehmung von Lichtmustern aus.

Diese Muster zu interpretieren, das muss jeder Patient einüben. Deshalb folgt auf die Operation eine Rehabili­ta­­tionsphase. Jeroen Perk lernt, den Lichtblitzen in seinem Kopf eine Bedeutung zuzuordnen. "Das Ergebnis hängt wesentlich mit der Mitarbeit und Motivation des ­Patienten zusammen. Nur durch intensives Üben lernt er, etwas mit der neuen Wahrnehmung anzufangen", erläutert Experte Peter Wiedemann.

Jeroen Perk ist motiviert. Für ihn ist das Implantat wie eine Sprache: Um sie zu lernen, muss man üben und Hausaufgaben machen. Jeden Dienstag und Freitag geht er nach der Arbeit zur Reha, zu Hause trainiert er täglich eine Stunde vor einer dunklen Magnettafel.

Das Ziel: helle Formen, Linien und große Buchstaben erkennen. Bald schon muss Perk nicht mehr mit den Händen tasten, um zu kon­trollieren, ob er etwas richtig erkannt hat.

In einem nächsten Schritt übt er die Orientierung draußen. Mit dem Bus fahren, Bordsteinkanten erkennen, Zebrastreifen finden. Wenn er mit seiner Freundin Nanda spazieren geht, unterstützt sie ihn dabei, die neuen Eindrücke zu interpretieren. Ist das ein Schild oder ein Baum? Ein Bus oder ein Motorrad? Asphalt oder Gras?

Perk saugt die neuen Eindrücke in sich auf, obwohl ihn die ungewohnten Lichtblitze in seinem Kopf zunächst quälen. "Anfangs hatte ich oft Kopfschmerzen oder mir wurde schwindlig, wenn ich die Brille länger trug." Doch mittlerweile hat sich sein Gehirn daran gewöhnt, und er kann den Apparat den ganzen Tag tragen. Auf Blindenhund und Taststock kann er in ungewohnter Umgebung zwar trotzdem nicht verzichten, aber "mein Alltag ist viel sicherer und selbstständiger geworden".

"Für mich ist es ein kleines Wunder"

Besonders gut funktioniert das Implantat, wo Hell und Dunkel aufeinandertreffen: Lampen, Kerzenflammen, Feuerwerke, Fenster und Türen, Besteck auf einer hellen Tischdecke, das weiße Geschirr auf dem schwarzen Fell seines Hundes Pedro - all das erkennt Jeroen Perk problemlos in einem pixeligen Schwarz-Weiß. Auch Bewegungen, etwa von vorbeifahrenden Autos, kann er in Form von Lichtblitzen wahrnehmen. Obwohl Perks Welt farblos ist und sich aus groben Punkten zusammensetzt, sind für ihn jede Silhouette, jede Kante und jede Bewegung wertvoll.

Sein bisher größter Erfolg: "Ich kann das Schlüsselloch in meiner Haustür erkennen - acht Monate habe ich dafür gebraucht." Natürlich gibt es Grenzen, und manche Träume werden solche bleiben. Auto fahren zum Beispiel oder im Fußballstadion ein Spiel des PSV Eindhoven sehen. Trotzdem ist Perk glücklich über seine Entscheidung. "Was ich sehe, ist für gesunde Menschen nicht viel, für mich aber ein kleines Wunder."

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