Oben auf dem Hügel erforschen Physiker Atomuhren, die unten im Tal drei Firmen industriell herstellen. Kenner bezeichnen Neuchâtel deshalb als Eldorado für industrielle Atomuhren. Ein Highlight: Die Premiere einer Atomuhr als Taktgeber für ein mechanisches Chronometer.
"Wir sind weltweit der einzige Ort mit einer derartigen Konzentration an Atomuhren-Herstellern", sagt Physikprofessor Gaetano Mileti, Leiter des Labors für Zeit und Frequenz (LFT) am Institut für Physik der Universität Neuchâtel. "Weil auch an anderen Orten der Welt in Sachen Atomuhren geforscht wird, müssen wir hier aufpassen, dass wir nicht wieder unsere führende Rolle verlieren. Ich erinnere nur an die katastrophale Situation, als durch die Einführung der Quarzuhr den Herstellern von mechanischen Uhrwerken das Aus drohte." In der Tat entstand laut Mileti, der selbst aus einer Uhrmacherfamilie stammt, die erste Quarz-Armbanduhr 1967 in Neuchâtel im Centre Electronique Horloger. Doch die dortige Uhrenindustrie habe dieser neuen Technik nicht vertraut. Aus dieser Fehleinschätzung sollte die Branche lernen und darauf achten, dass Ähnliches nicht nochmals passiere. Eine wichtige Rolle spielt dabei der in Neuchâtel geborene und aufgewachsene Physiker, der - nach einer zweijährigen Forschungszeit in Colorado, einer der Geburtsstätten der Atomuhrenforschung - wieder in seiner Heimatstadt arbeitet. Die LFT-Wissenschaftler betreiben physikalische Grundlagenforschung zur Wechselwirkung von Atomen mit elektromagnetischen Wellen und entwickeln Anwendungen für Atomuhren.
Atomuhren beeinflussen nahezu alle Bereiche unseres Lebens. Ohne sie gäbe es nicht das heutige Internet, kein grosses, gut funktionierendes Mobilfunk-Netz und keine GPS-Navigation. Ausserdem würde die Versorgung mit Energie nicht so stabil, sicher und zuverlässig funktionieren, denn auch dort ist die Synchronisation der Energieströme nötig. Jeder Knoten in diesen Verteilernetzwerken muss sich in einem physikalischen Gleichgewichtszustand befinden. Jeder Knoten muss Energieströme phasengleich in derselben Frequenz - zum Beispiel im 50-Hertz-Takt - übertragen. Das Einhalten dieser Schwingung muss akribisch genau überwacht werden, um Schäden zu vermeiden. Mileti: "Vor einiger Zeit führte eine leichte, aber über Wochen andauernde Abweichung der Netzfrequenz im südlichen Europa dazu, dass die Uhren in einigen Geräten wie etwa Küchenherden falsch gingen, weil ihre Zeitmessung auf der Netzfrequenz basierte."
Zu den weltweit führenden Instituten für den Zeittakt gehört die Physikalisch-Technische Bundesanstalt PTB in Braunschweig (Deutschland). Ihre Aufgabe besteht in der Sicherung des gesetzlichen Messwesens und in Kalibrierdiensten sowie der Grundlagenforschung, die sie im Bereich der Zeitmessung durch den Bau extrem genauer, aber auch sehr grosser Atomuhren umsetzt. "Diese Technik kompakter und handlicher zu gestalten, ist aber nicht Teil ihrer Mission", erklärt der Wissenschaftler. "Dagegen besteht unser Interesse darin, zu erforschen, wie sich kompakte und bezahlbare Atomuhren für die Industrie und mobile Anwendungen herstellen lassen. Die Firmen in Neuchâtel stellen bereits heute pro Jahr Tausende von Atomuhren für industrielle Anwendungen her." Mileti interessiert dabei besonders der Technologietransfer zur lokalen Industrie: Spectratime produziert unter anderem Rubidium- und Wasserstoffmaser-Atomuhren für Satelliten. (Maser sind Laser, die im Mikrowellenbereich arbeiten.) Bei T4Science entstehen hochpräzise aktive Wasserstoffmaser für Anwendungen in der Messtechnik und Wissenschaft. Oscilloquartz stellt sogenannte primäre Cäsium-Atomuhren zur Synchronisation von Telekommunikation her.
Eine zentrale Rolle spielt unten im Tal Pascal Rochat, Geschäftsführer der Spectratime GmbH. 1991 wurde er technischer Direktor der Sternwarte in Neuchâtel, einer wichtigen Keimzelle der Schweizer Atomuhren-Szene. Der damalige Sternwarten-Leiter Giovanni Busca startete seinerzeit ein Forschungsprojekt rund um Rubidium-Atomuhren, an dem sich auch der frühere Doktorand Mileti beteiligte. Kurz darauf entschieden sich Busca und Rochat zum Aufbau der Atomuhrenfabrik Spectratime. Mittlerweile gehört sie zum französischen Konzern Orolia. Spectratime hat einen guten Namen in der Branche, denn sie hat bereits viele Galileo-Satelliten mit Atomuhren ausgestattet. Rund 150 Spectratime-Atomuhren befinden sich bereits im All, darunter 100 in Galileo-Satelliten, die als europäische Alternative zum amerikanischen GPS-System dienen. Dank eines neuen 26-Millionen-Euro-Vertrags kann das Unternehmen seine nach eigenen Angaben weltweite Führungsrolle auf diesem Gebiet ausbauen. Damit etwaige Atomuhren-Ausfälle die zeittaktgebende Arbeit nicht gefährden, setzt die europäische Raumfahrtbehörde ESA auf vierfache Redundanz: Daher arbeiten in jedem Satelliten jeweils zwei Rubidium- und zwei Wasserstoff-Maser-Atomuhren, die als sehr langzeitstabile Frequenzreferenz dienen. Es handelt sich um bewährte Technik, die teilweise seit mehr als zehn Jahren zum Einsatz kommt.
Doch inwiefern unterscheiden sich die Produkte aus Neuchâtel von den teilweise schrankgrossen Atomuhren, die in wissenschaftlichen Einrichtungen entstehen? "Spectratime und T4Science sind die einzigen Unternehmen in Europa, die in der Lage sind, echte nutzbare Atomuhren für den Einsatz im Weltall oder auf dem Boden mit hervorragender Zuverlässigkeit, Schweizer Qualität und ohne Einschränkung der Lebensdauer anzubieten", betont Rochat. "Viele öffentliche Laboratorien und Universitäten in Europa "spielen" mit der Atomuhr, geben sehr grosse Mengen an öffentlichen Geldern aus, aber diese Investitionen und diese Forschung sind sehr selten für reale Anwendungen und brauchbare Systeme verwendbar."
Die Atomuhren "made in Neuchâtel" arbeiten aber nicht nur im All, sondern sie haben sich auch im industriellen Einsatz bewährt - etwa in China beim Synchronisieren von Telefonen oder Radarsystemen. Dazu entstehen bei dem Unternehmen in industrieller Serienproduktion jährlich einige Tausend Atomuhren, die selbst unter den schwierigen Einsatzbedingungen zuverlässig mehr als ein Jahrzehnt funktionieren. Dazu verfügt das Unternehmen über von der ESA zertifizierte und auditierte Reinraumtechnik, Prüf- und Dauertestanlagen. Jede Atomuhr durchläuft harte Prüfungen wie etwa das sogenannte Burn-in, das diejenigen Prüflinge aussortiert, die kritische Umgebungsbedingungen wie hohe oder niedrige Temperaturen nicht über einen längeren Zeitraum bestehen. Burn-in-Versuche simulieren auch den jahrelangen Einsatz. Eine sehr sinnvolle Prüfung, "denn wir können ja schlecht" - so ein Spectratime-Physiker beim Rundgang - "beim Ausfall einer Atomuhr ein Serviceteam ins All schicken". Es handelt sich dabei aber wegen des hohen Aufwands um Produkte, deren Entwicklung lange dauert und viel Geld kostet. "Manchmal verdienen wir erst nach zehn Jahren Geld mit einer neuen Atomuhr", erklärt der Geschäftsführer. "Andererseits sind es dann auch sehr robuste, zuverlässige und langlebige Produkte, die wir teilweise auch nach 30 Jahren noch herstellen." Wenn wundert es da, dass diese Branche konservativ agiert. Sie wartet aus gutem Grund sehr lange, bis sie jahrzehntelang bewährte Technik ersetzt: So gäbe es bereits Weiterentwicklungen hin zu kleineren Systemen, die mit Laserdioden arbeiten. Rochat: "Es dauert manchmal sehr lange bis zur Entwicklung eines Verfahrens, mit dem sich Tag für Tag mit gleichbleibender Qualität Atomuhren herstellen lassen."
Es gibt zwar bereits stationäre Atomuhren für Reiche, doch noch sind tragbare Versionen Science-Fiction. Einen Schritt in diese Richtung gehen zwei mutige Pioniere der Schweizer Uhren-Avantgarde, die Atom-Chronometer als Taktgeber für mechanische Armbanduhren einsetzen. Die Wiedergeburt einer Legende wagten die Uhrmachermeister Felix Baumgartner und Chef-Designer Martin Frei: Die Gründer der Marke Urwerk aus Genf und Zürich inspirierte eine Erfindung von Abraham Louis Breguet. Der aus der heutigen Atomuhrstadt Neuchâtel stammende Uhrmachermeister hatte - so heisst es in einem Brief aus dem Jahr 1795 - ein Mittel erfunden, um Taschenuhren zu stellen und zu regulieren, ohne dass sich jemand darum kümmern muss: "Jeden Abend, wenn man zu Bett geht, platziert man die Taschenuhr auf der Tischuhr. Am Morgen oder eine Stunde später ist sie genau mit der Tischuhr abgeglichen. Es besteht nicht einmal die Notwendigkeit, die Taschenuhr zu öffnen." Es handelte sich jedoch nicht um eine Luxus-Spinnerei für Reiche, sondern um eine messtechnische Notwendigkeit etwa im damals aufkommenden internationalen Eisenbahnverkehr. Breguet baute nach Überlieferung 12 bis 15 Paare mit jeweils einer Taschen- und einer Pendeluhr, die um Mitternacht die Taschenuhr sekundengenau einstellte und den Gang regulierte, um den Vor- oder Nachgang auf ein Minimum zu reduzieren.
Wie viele Uhrmacher reizte Breguets Erfindung die beiden Schweizer: Sie entwickelten drei AMC (Atomic Mechanical Control) Pendule Sympathique, bei denen ihnen seit dem Bau einer elektronisch geregelten, mechanischen Armbanduhr EMC die Erfahrungen im Elektronik-Einsatz - einem Sakrileg in der konservativen Schweizer Uhrenbranche - zugutekamen. Während Breguet nur zwei mechanische Chronometer synchronisieren musste, stand Urwerk vor einem physikalischen Dilemma: Wie bringt man die Spectratime-Atomuhr dazu, als Taktgeber für ein mechanisches Chronometer zu dienen? Es stand die Entwicklung einer mechanischen Schnittstelle an: zwischen der Atomhauptuhr, die mit einer maximalen Gangabweichung von einer Sekunde in 317 Jahren den Takt vorgibt, und einem Chronometer, dessen Unruh viermal pro Sekunde schwingt und das von Hand aufgezogen wird. Der Monolith zieht die Armbanduhr auf, stellt die richtige Uhrzeit ein und reguliert gegebenenfalls ihren Gang.
Details nennt eine Urwerk-Schrift: "Bei Breguets sympathischen Pendulen befindet sich der gesamte Mechanismus zur Gangregulierung in der Taschenuhr und wird zu einem festgelegten Zeitpunkt durch eine von der Tischuhr in die Taschenuhr führende Stange ausgelöst. Bei der AMC wird das gleiche Prinzip angewandt: Zum Zeitpunkt der Gangregulierung erhält die Armbanduhr einen Impuls über einen Drücker. Dadurch wird ein Hebel betätigt, an dessen gegenüberliegendem Ende sich eine auf einer Achse drehende Schere befindet. Die beiden Scherenteile schliessen sich um die halbmondförmige Scherenscheibe, die sich auf der Welle des Sekundenzeigers dreht. Stimmen die Uhrzeit der Atomuhr und diejenige der Armbanduhr auf die Sekunde genau überein, liegen die Scherenteile ganz aussen an der Scherenscheibe an. Ist die Uhrzeit jedoch nicht exakt synchronisiert, schliesst sich einer der Scherenteile weiter als der andere. Dadurch wird die Scherenscheibe ebenfalls gedreht. Aufgrund ihrer Form kann sich nur einer der beiden Scherenteile bewegen." Die Korrektur sorgt dafür, dass die Uhr am nächsten Tag etwas schneller oder langsamer läuft.
Damit die Atomhauptuhr, der sogenannte Monolith, immer extrem genau arbeitet, passt sie sich den weltweit üblichen Netzspannungen von 90 bis 240 Volt an. Ein speziell entwickelter Schaltkreis sorgt dafür, dass die in vielen Energie-Netzen üblichen Schwankungen von Frequenz und Spannung nicht den präzisen Takt der beiden Schwingkreise (Yttrium-Eisen-Granat- und Rubidium-Oszillation) beeinflussen. Für zusätzliche Genauigkeit sorgt die Synchronisation über GPS-Signale, die über Funk oder Internet auch die richtige Zeitzone einstellen.
Exklusivität hat ihren Preis: Urwerk baut drei AMC-Paare mit Atom- und Armbanduhr, die jeweils 2,7 Millionen Schweizer Franken kosten. Anrufe von Multimillionären oder Milliardären in Genf oder Zürich sind zwecklos, denn die drei Zeitmess-Duos sind bereits verkauft. Für das Urwerk-Team ist es jedoch in erster Linie eine Demonstration, wie sich elektronische, atomare und mechanische Systeme kombinieren lassen. Doch trotz dieser Vorleistung, die einen Platz im Guinness-Buch der Rekorde verdient, lockt die Schweizer nicht der Bau einer reinen Atomarmbanduhr. SMM