Was wäre, wenn wir unsere Großeltern in den Pflegeheimen nicht nur besuchen dürften, sondern sie auch wieder mal nach Herzenslust im Arm halten?
Wenn Kinder ihren Geburtstag wieder drin feiern könnten? Wenn in der Kirche wieder gesungen werden dürfte?
Was wäre, wenn wir alle für ein paar Stunden mit wildfremden Menschen tanzen, feiern oder knutschen könnten, ganz ohne Maske?
Was wäre also, wenn es für ein paar Stunden wieder so sein könnte, als gäbe es die Pandemie nicht? Das wäre doch wunderbar.
Und offenbar wäre das in Hamburg auch längst möglich. Nicht ohne Aufwand: Man bräuchte dazu eine große Teststation, eine App, die anzeigt, wie lange ein negatives Testergebnis höchstwahrscheinlich gültig ist, ein verbindliches System, mit dem Clubs und Theater nur Menschen mit Viren-Freipass Einlass gewähren. Die App ist programmiert, das Labor vorbereitet, der Bezirksamtsleiter überzeugt. Das einzige, was bisher fehlt: grünes Licht vom Senat. Und wohl auch Mut, Entscheidungen einfach dann zu treffen, wenn sie Not tun.
Die Idee
Die Männer, die diese Vision eines so viel unbeschwerteren Lebens mit Corona in Hamburg entworfen haben, heißen Axel Strehlitz und Heiko Fuchs. Strehlitz gehört zu den wichtigsten Machern im Vergnügungsviertel St. Pauli, er betreibt Restaurants und ist Geschäftsführer der Klubhaus St. Pauli GmbH. Er ist Teil der Branche, die der Lockdown am härtesten trifft und die nach wie vor um ihre Existenz kämpft. Fuchs ist IT-Unternehmer, hat mal Programmieren gelernt. Er ist einer der Väter des "Pandemiemanagers", ein Computerprogramm, mit dem die meisten Hamburger Gesundheitsämter heute die Covid-19-Fälle erfassen. Er kennt sich aus mit Datenschutz, und damit, wie man Apps baut.
Das erste Treffen findet Ende September auf dem Spielbudenplatz an der Reeperbahn statt, im Party-Herz des Kiez. Es gibt Schnitzel und vor allem ein Gesprächsthema: Die "Katze" im Schanzenviertel, dem benachbarten Vergnügungsrevier. In der Bar haben sich etliche Menschen angesteckt, auch die Barkeeperinnen und Barkeeper sind infiziert, die Lage erinnert an das Superspreading im österreichischen Ski-Ort Ischgl. Der Aufreger dabei: Die Kontaktzettel, die die Gäste für genau so einen Fall ausfüllen sollten, waren offenbar nicht mehr als ein Witz, darauf fanden sich Namen wie "Darth Vader" und "Donald Duck". Einen kurzen Moment lang mag das lustig gewesen sein. Nun führt es dazu, dass möglicherweise Infizierte unerkannt durch die Stadt spazieren.
Strehlitz und Fuchs sind deswegen sehr aufgebracht. Strehlitz sieht den Schaden für die Branche, Fuchs hält es für ein Problem mit Ansage. Beide sind voller Tatendrang. Es fühlt sich an, als wäre das genau ihr Moment. Seit Monaten beschäftigen sie sich damit, wie man so etwas mit einer intelligenten Kombination aus IT und Labor verhindern kann, ihr Projekt heißt "Corona Freepass" und ist genau jetzt einsatzbereit.
Zentral ist dabei eine App, die nicht nur die Nachverfolgung eines Ausbruchs mit einer Identitätsfeststellung zusammenbringt, sondern auch risikoarmes Feiern ermöglichen soll. Der negative Corona-Test würde eine ganz neue Bedeutung bekommen: als zeitlich befristete Zugangskarte für ein halbwegs normales Leben.
Im Gespräch wird klar: Das alles mag nach einer Träumerei klingen, aber die beiden sind keine Träumer. Ihre Sätze sind gespickt mit Labor-Jargon: "CT-Wert", "Replikationszyklen", "Positiv-Kontrollen". "Nach einer schlaflosen Nachtim Sommer hatte ich die Idee", sagt Strehlitz. "Und seitdem rede ich eigentlich fast nur noch mit Virologen und Laborärzten."