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Massentests: Wie Pandemie ohne Lockdown gehen würde

Ein blauer Container senkt sich auf das Pflaster des Spielbudenplatzes auf St. Pauli, ein Fernsehteam filmt. Zwar sind Container in der Nähe des Hafens keine Seltenheit. Dieser schafft es aber nicht ohne Grund in die Abendnachrichten: Im Inneren befindet sich ein Corona-Testzentrum. Es ist bei Weitem nicht das erste in Hamburg. Aber das erste, in dem ein völlig neuer Ansatz in der Seuchen-Bekämpfung verfolgt wird.

Die Debatte um den bestmöglichen Umgang mit der Corona-Pandemie bewegt sich von Beginn an zwischen zwei Extremen: Freiheiten einschränken und das Virus zurückdrängen - oder der Seuche ihren Lauf lassen und mit den Folgen leben. Hitzig wird diskutiert, welche Maßnahmen tragbar sind und wie viel Kontakt sich eine Gesellschaft erlauben darf. Es gibt aber noch einen dritten Weg, das Virus im Zaum zu halten: mit Corona-Tests für alle.

Im blauen Container auf dem Spielbudenplatz kann sich jeder Mensch in Hamburg testen lassen, einfach so, ohne konkreten Verdacht, ohne Zustimmung eines Arztes, für 24,99 Euro. Der Gedanke dahinter: Je mehr Menschen wissen, dass sie infiziert sind, desto weniger verteilen das Virus unwissentlich in der Öffentlichkeit, in Altenheimen und Schulen. Warum wurde dieser Weg nicht längst beschritten?

Die offizielle Teststrategie widerspricht dieser Logik: Auch in Hamburg dürfen PCR-Tests - die gängige, aber aufwendige Testvariante - nur noch bei Menschen angeordnet werden, die eindeutige Symptome zeigen. Die offizielle Begründung: Zuverlässige Tests sind knapp und wertvoll, die Labore haben jetzt schon zu viel zu tun. Doch es gibt noch eine weitere mögliche Erklärung: Es fällt den Verantwortlichen erkennbar schwer, das, was biotechnologisch möglich wäre, zu überblicken und schnell genug auf die Straße zu bringen. Ausbruchskontrolle durch massenhaftes Testen - anscheinend wissen viele Entscheidungsträger einfach nicht, wie das geht.

Der Container auf dem Spielbudenplatz gehört dem IT-Spezialisten Heiko Fuchs und dem Kiez-Unternehmer Axel Strehlitz. Sie sind ganz neu im Testgeschäft, aber vielleicht hilft ihnen das, den Blick fürs Wesentliche zu schärfen. Sie haben einige bemerkenswerte Vereinfachungen in ihr Verfahren eingebaut, gestützt auf aktuelle Studiendaten. In ihrem Container ist kein medizinisches Fachpersonal mit Teststäbchen beschäftigt. Stattdessen verteilen sie Salzwasser zum Gurgeln an ihre Kunden - auch in diesen Selfmade-Proben kann man Coronaviren zuverlässig nachweisen. Über eine App werden die Befunde an die Betroffenen und an das Gesundheitsamt gemeldet. Fuchs und Strehlitz haben seit dem Sommer versucht, ihr Projekt zusammen mit dem Senat umzusetzen, vergebens. Jetzt machen sie es auf eigene Faust.


Dass sich die Hamburger Gesundheitspolitik besonders schwer damit tut, auch Patienten ohne offensichtliches Risiko zu testen, könnte an der Überzeugungsarbeit liegen, die Matthias Gruhl im Senat geleistet hat. Gruhl, bis Mai Staatsrat für Gesundheit, argumentierte immer, dass Reihentests an Patienten ohne Symptome unbrauchbare Ergebnisse liefern würden, weil es dann zu viele falsch-positive Befunde gäbe. Wenn viel mehr Gesunde als Kranke getestet werden, führt tatsächlich selbst eine sehr niedrige Fehlerrate dazu, dass der Großteil der positiv getesteten Menschen eigentlich virenfrei ist - die Fehlerrate eines Tests ist eine feste Größe. Mit der Realität in einem Labor hat Gruhls Argumentation allerdings wenig zu tun: PCR-Tests ergeben niemals ein klares "Ja" oder "Nein", sie messen Virenkonzentrationen. Findet sich in einem Test nur eine Kleinstmenge an Coronaviren, wird die Probe nachgetestet, um Fehler auszuschließen. In Bayern sind Tests auch an symptomlosen Patienten erlaubt, hier konnten Statistiker nachweisen, dass die falsch-positiven Befunde die offiziellen Infektionszahlen kaum beeinflussen.

Starke Auswirkungen auf das Pandemiegeschehen haben dagegen all die Viren, die übersehen werden, wenn man sich beim Testen nur auf die offensichtlich Kranken und ihre Kontakte konzentriert. Denn das Coronavirus macht nicht jeden krank, etwa jeder Dritte bemerkt nichts von der eigenen Infektion. Ohne auch diese Menschen zu testen und zu isolieren, lässt sich so ein Erreger nicht bändigen.

Um den aktuellen Ausbruch schnell in den Griff zu bekommen, müssten sich alle Bürger ständig testen lassen. Damit ergäbe sich ein weiteres Problem: die Frage nach den Kosten. Wer soll 200 Millionen Tests pro Woche bezahlen?

Die Antwort ist verblüffend: Massentests sind wohl die kostengünstigste Methode der Pandemiebekämpfung überhaupt. Zumindest nach einer aktuellen Berechnung des Harvard-Epidemiologen Michael Mina. In dem von Mina berechneten Szenario werden allen US-Bürgern alle zwei Tage Antigen-Schnelltests und bei positivem Ergebnis PCR-Nachtests zur Verfügung gestellt. Da so auch unauffällige Virusträger gefunden würden, gäbe es weniger Folgeinfektionen, weniger Krankenhausbehandlungen und weniger Quarantäneverfügungen, die für die Arbeitgeber sehr kostspielig sind. Unterm Strich würden die Ausgaben für die Tests nach Minas Berechnungen um das bis zu Zehnfache kompensiert. Und: Lockdowns wären überflüssig.


Die Test-Novizen Fuchs und Strehlitz sparen Zeit, senken ihre Kosten und erhöhen ihr Testvolumen, indem sie "poolen", also eine große Menge Proben gleichzeitig auf das Virus überprüfen. Nur dann, wenn es tatsächlich nachgewiesen wird, müssen die Proben einzeln neu untersucht werden. Ein Test im neuen Container auf dem Spielbudenplatz ist dadurch noch am selben Tag fertig und nur halb so teuer wie im Katalog der Krankenkassen.

Und es ginge sogar noch günstiger – und noch schneller. Österreich setzt auf einen Massentest, der von Nukleinsäureforschern am Institute of Molecular Biotechnology in Wien entwickelt worden ist. Dieser funktioniert ähnlich wie ein PCR-Test, spürt die Erbsubstanz der Viren aber innerhalb von 40 Minuten auf und ist denkbar simpel: Die Probe wird in die fertige Reaktionslösung pipettiert, entwickelt sich dann im Wasserbad. Die Kosten: zwei Euro pro Probe. In Deutschland gibt es Hunderte molekularbiologischer Forschungslabore, die das auch könnten, wenn man sie ließe. Doch diese Labore dürfen keine medizinischen Tests anbieten.

Vor allem in den Hamburger Schulen könnten die Massentests wesentlich zur Entspannung der Lage beitragen. Inzwischen weiß man, dass Jugendliche ab 14 Jahren ebenso leicht infizierbar sind wie junge Erwachsene. Nur geben sie das Virus wohl unauffälliger weiter. "Für die Kontrolle des Infektionsgeschehens stellt der sehr milde Verlauf eine besondere Herausforderung dar", schreiben Forscher am Münchner Helmholtz-Zentrum, die gerade die bislang größte Studie zum Thema herausbrachten, "weil sich Infektionen so unbemerkt ausbreiten können".

In der Politik scheint das nicht anzukommen. Die Hamburger Schulbehörde erklärte noch Mitte November, die Ansteckungsgefahr in der Schule sei viel geringer als außerhalb. Sie begründet das so: "Zwischen Sommer- und Herbstferien meldeten 171 Schulen Corona-Infektionen, aber nur in 23 der betroffenen Schulen gab es gleichzeitig mehrere Infektionen." Woher man das wisse? Durch die Auswertung der bekannt gewordenen Fälle. Aber diese Fälle könnten ebenso gut eine kleine Teilgruppe innerhalb einer viel größeren Gruppe symptomlos infizierter Schülerinnen und Schüler sein – Angaben dazu, wie viele Kinder pro Ausbruch in einer Klasse überhaupt getestet worden waren, konnte die Behörde auf Nachfrage der ZEIT nicht machen. Es sei schlicht nicht "logisch", sagt Schulsenator Rabe, "dass sich infizierte Kinder vor allem in der Schule infizieren". 

Schulpolitiker wie Rabe stehen vor einem ganz anderen Problem: Im Sommer haben sie geschworen, dass es keine zweite Schulschließung geben werde. Angesichts der Höhe der zweiten Welle ist dieses Versprechen kaum noch zu halten. Als im Oktober die Zahl der Neuinfektionen plötzlich in die Höhe zu schnellen begann, berechneten die führenden deutschen Infektionsstatistiker, was jetzt noch helfen könnte. Ihr Ergebnis: eine Reduzierung der Kontakte um 75 Prozent. "Das geht kaum ohne die Schulen", sagte die Bremer Forscherin Iris Pigeot, eine der Autoren.


Der Virologe Jonas Schmidt-Chanasit vom Hamburger Bernhard-Nocht-Institut brachte wieder und wieder vergeblich Argumente und neue Ideen für schnelle, unkomplizierte Tests vor – als Mittel gegen Schulschließungen, aber auch in Pflegeheimen. Dort ist die Lage bedrohlich, die Heimbewohner fallen in eine Altersgruppe, in der etwa jeder Zehnte die Infektion nicht übersteht. Auch das Robert Koch-Institut empfiehlt hier inzwischen vorsorgliche Tests. Wer sie durchführen soll, ist noch nicht klar, die Mengen würden die Kapazität des Containers auf St. Pauli bei Weitem übersteigen. Schmidt-Chanasits Idee für Hamburg: mobile Testteams, die in den Heimen und so schnell wie möglich auch anderswo in der Stadt Hilfe anbieten.

Die theoretischen Zweifel an den Massentests seien in den meisten Behörden inzwischen sogar ausgeräumt, sagt Schmidt-Chanasit. Jetzt gebe es andere Bedenken: etwa, dass die Tests das Meldesystem aushöhlen, weil keine Ärzte mehr beteiligt sind und positiv getestete Personen so ihren Befund verheimlichen könnten. 


Es ist fast schon irrwitzig: Die App, die das verhindert, ist auf St. Pauli längst programmiert. Und alle Menschen, die jetzt nichts von ihrer Infektion ahnen, weil sie nicht getestet wurden – etwa deshalb, weil sie nur Halsweh haben: All diese Menschen gehen natürlich auch jetzt nicht verantwortungsvoll mit ihrem Befund um. Sie haben ja gar keinen.





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