Bernstein und Septemberhimmel
(ungekürzte Version)
Anfang September vereinbarte ich eine Reportage beim Hamburger Zuführdienst. Beobachtete einen Vormittag lang, wie sich zwei Mitarbeiter der Stadt bemühten, einen Mann aus seiner Wohnung und in eine psychiatrische Klinik zu bekommen. Denn genau dafür gibt es in Hamburg, und nur hier, diese sehr spezielle Behörde.
Etwa zwei Wochen später sollte ich zum zweiten Mal mitgehen, bei der Spätschicht. Doch dazu kam es nicht mehr. Es war der Tag, an dem die beiden Männer von einem Patienten in Harburg angezündet wurden. Jetzt ist einer der beiden tot, der andere liegt mit versengter Lunge und verbrannter Haut im Krankenhaus.
Gleich nach der Tat tauchte die Frage auf, warum sie allein in diese Wohnung gegangen seien, ohne die Polizei um Hilfe zu bitten. Ob das nicht grob fahrlässig gewesen sei.
Ich meine: War es nicht. Wer das denkt, hat nicht verstanden, worin die Arbeit dieser beiden Männer bestand. Gehen wir noch einmal zurück. Zu jenem Tag, als alles noch gut war.
Der erste Eindruck von Oguz Coban hält lange vor. Das ist sein Blick. So unverwandt sehen einen andere Menschen selten an. Seine bernsteinbraunen Augen bleiben einfach geradeaus, als würden sie tiefer sehen wollen. Auch wenn es sehr freundliche Augen mit vielen Lachfältchen sind: Es ist schwer, dem länger standzuhalten. Hat nicht jeder tief in seiner Seele ein wenig Dunkel, das man zu verbergen sucht?
Es ist ein warmer Tag Anfang September. Die Pfandjäger vor dem Biosupermarkt tragen kurze Hosen. In alten Bierdosen glitzert goldene Sonne. Und vor dem Altonaer Gesundheitsamt steigen Männer in dunklen Jacken in einen Van.
Eigentlich haben sie andere Namen. Aber hier werden sie Oguz Coban und Ulf Rafael heißen, denn nach dem, was ihnen passiert ist, soll ihre Identität nicht mehr öffentlich werden.
Coban sitzt vorne, neben dem Fahrer. Rafael, leuchtend weiße Bürstenfrisur und ein fester Händedruck, rutscht auf der mittleren Rückbank ganz weit ins Eck. Seine Arme breitet er zu beiden Seiten aus, über Lehne und Fensterbank. Eine Marotte? »Nein«, sagt er, »das mache ich extra. Wirkt entspannter auf unsere Gäste. Körpersprache ist ansteckend.« Und natürlich könnte er so auch blitzschnell zugreifen, wenn jemandem wieder einfallen sollte, dass er eigentlich gar nicht mitfahren wollte.
Seine Augen wandern viel, am liebsten in die Ferne. Sie sind so blau wie der Septemberhimmel, der heute über der Stadt steht. Jetzt ist er 58, kurz vor der Rente, und schon seit 30 Jahren beim Zuführdienst. Die Harke nimmt er nur noch abends in die Hand, im eigenen Garten, zum Runterkommen. Vorne hört Coban gut zu und nickt. „Runterkommen ist nicht so einfach beim dem, was wir hier machen.«
Insgesamt sind es im Gesundheitsamt Altona 14 Mitarbeiter, die sich in ganz Hamburg um diejenigen kümmern, die eine psychische Erkrankung aus der Welt geworfen hat. Immer häufiger wird nach ihnen verlangt. 2017 holten sie 4368 Menschen von Polizeiwachen, Hausdächern oder aus ihren Wohnungen und brachten sie in die Psychiatrie. 12 Einsätze pro Tag waren das im Durchschnitt. In diesem Jahr sind es schon 13. Wenn das so weitergeht, haben die Zuführer Ende Dezember bei der Zwangseinweisung von 4600 Menschen mitgeholfen.
Sie handeln auf Zuruf. Entweder bekommen sie den Auftrag von einem Psychiater, der zu einem gefährlich oder gefährdet wirkenden Menschen gerufen worden ist, oder von Gericht. Menschen, denen attestiert wird, sich nicht um sich selbst kümmern zu können, wird von dort ein Betreuer zur Seite gestellt. Er kommt regelmäßig zu Besuch. Wenn er feststellt, dass sich der Zustand seines Schützlings bedrohlich verschlechtert hat, er aber die Therapie ablehnt, kann er bei Gericht einen »Unterbringungsbeschluss« beantragen.
An diesem Tag steht ein Termin in Steilshoop an. Weil er seine Medikamente nicht mehr nimmt, soll ein Mann nach Ochsenzoll gebracht werden, in die Psychiatrie. »Wieder einer in der Drehtür«, sagt Coban. »Warum bringen wir die Leute hin, wenn sie dort nicht bleiben dürfen?« Die Kassen werden immer penibler, Patienten in den Psychiatrien müssen immer früher nach Hause. Aber wer zu früh gehen muss, ist noch zu labil, um sich gut um sich selbst zu kümmern und wird oft sehr bald wieder zurückgebracht.
Der Van biegt in eine ruhige Straße. An einer Zufahrt steht ein Mann mit Aktentasche und winkt. Der Betreuer. Als das Auto vor dem Haus parkt, entfacht die Sonne ein glitzerndes Feuerwerk in all den grünen Bierflaschenscherben, die auf dem betongrauen Platz herumliegen.
Rafael und Coban gehen den Fall nochmal durch. In der Zentrale hatten sie schon die Akten studiert, jetzt reden sie mit ihm, der den Patienten persönlich kennt. In der Wohnung liegen Tabletten herum, berichtet er mit besorgtem Blick über die Brille, Herr Schmidt lässt sie regnen wie Konfetti. Ihre ordnende Wirkung in seinem Kopf ist verschwunden. Dafür sind die Agenten mit den giftigen Strahlen wieder da. »Er weiß, dass Sie kommen«, sagt der Betreuer. »Müssen wir aufpassen?« »Er war noch nie aggressiv.«
Der 56-Jährige ist seit Tagen nicht mehr aus der Wohnung gekommen. Die Fenster sind verbarrikadiert. Er hat wahrscheinlich schon eine Weile nichts mehr gegessen. »Wir legen solche Termine gern auf den späten Vormittag, dann sind die Nachbarn unterwegs«, sagt Rafael. »Unsere Patienten haben es ohnehin nicht leicht. Da wollen wir wenigstens den Tratsch vermeiden.«
Es ist 11 Uhr, als alle drei im Treppenhaus nach oben gehen. Rafael bringt sich mit Coban vor der Tür in Stellung. Sie sieht irgendwie traurig aus. Ein bisschen zu fleckig, ein bisschen zu grau und hängt schief in den Angeln. Unter dem Spion stand mal ein Name. Jemand hat ihn weggekratzt.
Coban ist ein kräftiger Mann mit breiten Schultern. Er stellt sich dorthin, wo die Tür gleich aufgehen könnte. Der schlaksige Rafael steht direkt daneben, so füllen sie gemeinsam den Rahmen. Einen anderen Ausgang gibt es nicht aus diesem Wohnkasten, das haben sie überprüft. Rafael sieht sich um und sagt leise, dass alle anderen Abstand halten sollen. »Zum nächsten Treppenabsatz. Wir wissen nicht, was uns erwartet.«
Es ist eine Weile her, da traf Rafael hinter so einer Tür auf ein gezücktes Küchenmesser. »Zum Glück war da ein Stuhl, als Deckung. So konnte ich mit dem Mann reden. Er war einfach nur verängstigt und hat mir das Messer schließlich gegeben. Aber seitdem überlege ich mir immer zuerst beim Reingehen, wo ich Schutz finden könnte.«
Es ist eine Gabe, Menschen in diesem Zustand zu beruhigen. Die meisten der Abgeholten leiden an einer Wahnerkrankung wie Schizophrenie. Viel zu viel Dopamin, das wirkt aufputschend bis zur Raserei. Wer in so einem Zustand steckt, dem rasen die Gedanken davon, der versteht die Welt nicht mehr. »Die einzelnen Worte helfen da nicht viel«, sagt Rafael. »Gesten schon.“ Der richtige Tonfall, ruhiges Auftreten. „Das kann die Situation sofort entschärfen. Blaulicht macht sie fast immer schlimmer.«
In dem kleinen Flur ist es dunkel. Coban horcht kurz an der Tür. Dann nickt er Rafael zu. Der klingelt.
Das Geräusch hallt lange nach. Es tut sich nichts.
»Herr Schmidt, hier ist das Gesundheitsamt«, sagt Rafael mit gedämpfter Stimme in die Tür. »Bitte machen Sie auf, wir möchten mit Ihnen reden.« Nichts. »Herr Schmidt?« Herr Schmidt reagiert nicht, warum sollte er auch, schon seit Wochen versteckt er sich in seiner eigenen Welt. Wenn sich geheime Mächte gegen einen verschwören, hilft nur eins: So tun, als ob es einen nicht gibt. Coban lächelt kurz und zeigt mit dem Finger auf eine Stelle der Tür, dahinter hört er es leise rascheln.
Mit einem Mal verändert Rafael den Tonfall. Er ist nicht mehr der nette Mann, der das Gespräch sucht, er ist der Mann mit dem Unterbringungsbeschluss. »Wenn Sie die Tür nicht öffnen, mache ich sie auf. Wir haben einen Schlüssel«, sagt er scharf. Dann hebt er die Faust. Die Schläge hallen von den engen Wänden im Hausflur wider, hart und unnachgiebig. Aber es rührt sich nichts.
Die nächste Stufe: Jetzt soll wirklich aufgeschlossen werden. Rafael dreht den Schlüssel im Schloss, Coban drückt die Klinke, die Tür öffnet sich nicht. Herr Schmidt meint es ernst mit dem Widerstand. Coban hämmert, Rafael bellt. »Öffnen Sie! Sofort!!!« Herr Schmidt denkt gar nicht daran. »Haut ab«, keift er von innen zurück, »ihr kriegt mich nicht!«
Es wird noch eine halbe Stunde lang dauern, bis sich die beiden entschließen, die Feuerwehr und die Polizei zu holen. Die Feuerwehr als mechanische, die Polizei als mentale Türöffnerin. »Es kann sein, dass der Mann nicht weiß, ob wir die sind, die wir behaupten zu sein«, flüstert Coban. »Das Durcheinander im Kopf. Manchmal helfen Uniformen, eine Tür aufzubekommen, manchmal geht sie dann erst recht zu.«
Die Tür aufbohren zu lassen, das wollen beide auf jeden Fall vermeiden. Ihre Dienste sind kostenlos. Aber was an der Wohnung kaputtgeht, muss bezahlt werden. Die meisten Patienten haben aber kaum etwas, sie leben von Stütze.
Coban sichert jetzt mit dem Fahrer den Flur. Rafael wartet unten zusammen mit dem Betreuer auf die Verstärkung. Er bespricht, was danach an der Tür zu tun ist. »Kaufen Sie doch ein Schloss im Baumarkt, das ist viel billiger«, sagt er. »Bestimmt können Sie das auch selber einbauen, oder?« Rafael hat so eine Art, da kann man schwer Nein sagen. Der Betreuer nickt.
Bis die Unterstützung kommt, macht Coban Musik. Mal spielt er auf der Tür mit den Fingern Klavier, mal scharrt er wie ein kleines Tier. »Ich will in seinen Kopf zu kommen, ihn irritieren“, sagt er. „Vielleicht macht er auf, weil er das nicht aushalten kann.«
Wenn jemand Stimmen hört – und es spricht viel dafür, dass hier hinter der Tür mehr reden, als zu sehen wären - will er alles genau verstehen. Zusätzliche Geräusche sind eine Qual, denn das Flüstern ist unwiderstehlich. Es beruhigt. Es lobt. Es weiß, was zu tun ist, falls Leute in schwarzen Jacken klingeln.
Coban schafft es nicht, nichts funktioniert. Er muss warten und kommt ins Reden. 50 Jahre sei er alt, 30 davon habe er sich um „geplagte Seelen“ gekümmert. Beim Zuführdienst ist er seit 12 Jahren, vorher war er viele Jahre als Pfleger in der Psychiatrie. Unter anderem in Ochsenzoll.
Da gab es diesen traurigen Jungen, keine 20 Jahre alt. Er lächelte wieder, also kam er von der geschlossenen auf die offene Station. »Dann hat er sich im Heizungskeller erhängt«, sagt Coban. »Er hatte uns wohl nur vorgespielt, dass es im besser geht.« Es war Coban, der den Toten herunternahm, der ihn auf eine Trage legte. Der ihn im Krankenwagen in die Leichenhalle fuhr. Er heulte, starrte in die Nacht hinter der Autoscheiben und plötzlich war es ganz klar. Jemand muss das aufhalten. »Manche haben da diese Dunkelheit, die sie tief in sich drin verstecken. Psychosen machen die Menschen von innen kaputt. So schnell. Da muss man aufpassen.«
Aus einem kleinen Oberlicht stiehlt sich ein Sonnenstrahl herein. Rafael kommt mit einem Tross die Treppe hoch. Coban wird wieder an der Tür gebraucht. »Herr Schmidt«, sagt er, »Die Polizei ist jetzt hier. Machen Sie einfach auf. Wir wollen Ihnen doch helfen.«
Nun drängen sich acht Leute in dem kleinen Flur. Rafael hat zwei Feuerwehrleute, zwei Polizisten und sogar noch den Fahrer mitgebracht. Für alle Fälle. Wer es so ernst meint wie Herr Schmidt mit dem Verschanzen, der könnte noch mehr planen.
Alle gehen jetzt extrem vorsichtig vor. Die Hierarchie dabei ist klar: Was als nächstes gemacht wird, das bestimmen die beiden Zuführer. »Wer soll hier sonst die Lage einschätzen?«, sagt eine Polizistin. »Mit Psychiatriepatienten kennt sich keiner so gut aus. Die können das am besten. «
Es ist ein Geduldsspiel. Schloss aufbohren reicht nicht, den Riegel schafft nur das Stemmeisen. Mit einem Knall fliegt die Wohnungstür auf. Herr Schmidt ist da schon im nächsten Zimmer verschwunden. Wieder kommt der Bohrer zum Einsatz. Herr Schmidt, ein irrlichternder Schatten hinter vergilbtem Glas, hält die Türklinke fest. Auf dem Spiegel daneben klebt ein Post-it.»Ich?« steht dort in Krakelschrift.
Als die Feuerwehrleute alle Leisten abgeschraubt und die Glasscheibe herausgedrückt haben, springen Coban und Rafael blitzschnell durch den Rahmen in das grünlich abgedunkelte Zimmer. Es geht zu schnell, um zu sehn, wie. Plötzlich sind sie drin. Und in ihrer Mitte steht zwischen all den Tablettenkonfetti, leeren Bierflaschen und alter Wäsche ein zittriger Greis, die Hände zur Kapitulation erhoben. Die Haare liegen in wilden Wirbeln. Seine Schultern sind tief gebeugt. Er riecht ein wenig. »Ich komm ja mit«, sagt er und beginnt sofort eine Konversation mit den Männern. »Ist Merkel noch Bundeskanzlerin? Wirklich? Bei dem Wetter? Was für ein Sommer, waren Sie mal draußen? Kann ich meine Jacke mitnehmen?«
Als es die falsche ist – »Das ist doch nicht meine Jacke, das ist mein Mantel!« – lächelt Rafael zum ersten Mal. Er erkundigt sich, nach was genau er schauen soll, und geht suchen. Die Polizisten ziehen ihre Handschuhe aus, die Feuerwehrleute packen das schwere Gerät zusammen. Da die Jacke gefunden ist, nehmen die beiden Männer vom Zuführdienst den Alten zwischen sich. Erst fasst jeder ein Handgelenk. Aber als er brav wie ein kleines Kind mittrippelt, sehen sich Rafael und Coban kurz an. Beide lassen los. Herr Schmidt, der Friedliche, darf sich als beinah freier Mann nach unten bis zum Auto plaudern. »Waren Sie mal in Venetien?« »Nein. Sie?« »Ja, als Junge in der Schulzeit. Ist schön da.« »Das glaub’ ich.«
Sobald sie unten sind, steigt Herr Schmidt ein und lässt sich in das schwarze Kunstlederpolster sinken. Bevor er selbst hinterherkommt, nimmt Rafael noch einmal die Feuerwehrmänner zur Seite: »Die Leisten macht ihr noch an die Tür, oder? Ist ja für einen guten Zweck. Danke. Ich schulde euch was.«
30 Minuten später ist ein redseliger Paranoiker zusammen mit einer freundlichen Schwester in den aquarellbetupften Weiten des Klinikflurs verschwunden. Rafael zündet sich draußen eine Zigarette an. Er hat noch etwas zu sagen, zu der Bedrohung, die hinter Türen lauern könnte. Und zur Polizei, die deswegen in anderen Bundesländern solche Einsätze übernimmt. »Wir können ja nicht durch das Holz gucken, wir wissen nie, was dahinter ist«, sagt er. »Trotzdem muss ein Mensch da rein.« Er betont »Mensch«, und meint: Einer von ihnen, vom Zuführdienst. Einer, der Türen lieber ohne Eile öffnet und versteht, wie groß der Unterschied zwischen Mantel und Jacke sein kann. »Wenn wir die Polizei holen, weil wir einen Patienten für gefährlich halten, schicken sie die Hunde vor, so eine neue Dienstanweisung. Aber unsere Patienten sind keine Schwerverbrecher, die brav das Messer fallen lassen. Sie sind krank, haben Angst vor der Welt und verstehen kaum, was passiert. Ein knurrender Hund macht es schlimmer. Am Ende stirbt noch jemand. Das riskiere ich lieber nicht.« »Ja«, sagt Coban. »Unsere Patienten sind wie kleine Kinder. Sie wissen nicht, was sie tun.«
Die Tür, die auf die Stunde genau 18 Tage später in Harburg auf Rafael und Coban warten wird, wird erst einmal harmlos wirken. In den Akten, die sie vorher durchgehen, steht zwar auch etwas von Psychose und etwas von Stimmen. Aber nichts lässt erahnen, dass das bei Tim B. Dämonen sind, die von Feuer flüstern.
Bestimmt sind die beiden Männer des Zuführdienstes den Fall vor dem Haus noch mal durchgegangen und wollten von dem Betreuer mehr über ihren Patienten wissen. Dann haben sie sich wieder vor der Tür aufgebaut. Haben sich noch einmal angesehen. Und dem Mann drinnen Bescheid gesagt, dass sie jetzt da sind, um ihm zu helfen.
Über das, was danach geschah, sind bisher nur Bruchstücke bekannt. Die Oberstaatsanwältin weiß zumindest, dass die erste Tür noch mit dem Schlüssel aufging, den der Betreuer dabeihatte. Vielleicht konnten die beiden dann den Spiritus riechen. Oder es gab ein anderes Alarmsignal. Jedenfalls trat Coban wohl die nächste Tür ein: Die Zimmertür, hinter der sie ihren Patienten hörten.
Coban erzählte noch davon: Dass es manchmal so schnell gehen muss, dass sie keine
andere Wahl haben, als den Fuß mit voller Wucht aufs Türblatt krachen zu lassen.
Nachdem die Tür aufgeflogen war, hatte die Hölle gewonnen. All die Stunden, die B. wohl auf sie gewartet hatte, bereitete den Weg zu diesem Ende. Spiritus ist ein flüchtiger Geist. Das ganze Zimmer war voll mit verdampftem, brennbarem Ethanol, als das Feuerzeug zündete.
Rafael mit seinen wandernden Augen muss die Sekunde vor dem Inferno gereicht haben, um die Dusche zu bemerken. Die Feuerwehrleute erzählen jedenfalls, dass er nur überlebte, weil sich selber löschte.
Und Coban? Was hat er gemacht? Wollte er es aufhalten, das Dunkle?
Es war da - und es hat ihn blitzschnell verschlungen. Er konnte nur noch nach unten stolpern. Seine Jacke ausziehen. Und auf der Wiese sterben.
Es war ein ganz normaler Abschied an diesem warmen Spätsommertag. Als sie Herrn Schmidt gut untergebracht hatten, sah ich auf die Uhr und entschied, lieber an einem anderen Tag noch einmal mitzufahren. Es war so praktisch, dass das Auto gerade nah bei mir zu Hause vorbeifuhr.
Herr Rafael ließ seine Septemberhimmelaugen kurz in die Ferne schweifen und wusste schon genau den Weg, der mich am schnellsten vor die Tür bringen würde. Ich sah keinen Grund, zu widersprechen. Herr Coban drückte meine Hand. Bernstein, unerschütterlich geradeaus. „Wann kommen Sie denn wieder?“, fragte er. „In zwei Wochen“, sagte ich. Und ich dachte noch, dass ich ihn dann unbedingt fragen müsse, warum er Menschen so ansieht.
Für Tim B. gibt es inzwischen einen Unterbringungsbefehl. Das ist ein Haftbefehl für psychisch kranke Straftäter. Für sie gibt es nur einen Ort in Hamburg: Ochsenzoll. Er soll dorthin kommen, sobald er das Verbrennungsbett verlassen kann. Der Maßregelvollzug liegt in Sichtweite zum normalen Krankenhaus, wo Coban einst seine Suche nach dem Dunkel begann. Ich weiß noch nicht, wie ich das finde. Vielleicht weiß es Rafael. Wenn es ihm besser geht.