Überraschend viele Menschen können Gesichter nicht unterscheiden - von ihnen lernen Neurobiologen und sogar Software-Entwickler.
Wer für einen Moment das Gefühl haben möchte, mit der berühmten Schimpansenforscherin Jane Goodall gut bekannt zu sein, der muss nur wie selbstverständlich auf sie zugehen, sie herzlich begrüßen und etwas von Wiedersehensfreude erzählen, schon wird Goodall freundlich antworten: "Ich freue mich auch sehr, Sie wieder einmal zu sehen!"
Wie ist es, wenn sich zwei Gesichter so wenig voneinander unterscheiden wie ein Apfel vom anderen - mit oder ohne Maske? Die surrealistische Phantasie des belgischen Malers René Magritte aus dem Jahr 1961 mit dem Titel "Le Prêtre Marié" gibt eine Vorstellung davon, wie Menschen sehen, die unter sogenannter Prosopagnosie leiden, also keine Gesichter erkennen können.
(Foto: ASSOCIATED PRESS)Goodalls Vertraulichkeit mit Fremden ist keine britische Höflichkeit, sondern ein geschicktes Ablenkungsmanöver, das sie seit früher Jugend einstudiert hat - aus Angst vor peinlichen Situationen: Denn das gewisse Etwas, das ein Menschengesicht vom anderen so eindeutig unterscheiden soll, kennt sie nur vom Hörensagen. Goodall gehört zu den Menschen, die Forscher als Prosopagnostiker bezeichnen, sie ist gesichtsblind. Sie sagt: "Ich kann mit einem Menschen einen ganzen Tag verbringen und erkenne ihn am nächsten doch nicht wieder."
Einem von 40 Menschen geht es ähnlich wie Jane Goodall, nimmt das Münsteraner Ärzteehepaar Monika und Thomas Grüter an. Die Gesichter der Mitmenschen sind für Prosopagnostiker nützliche, aber vollkommen unpersönliche Kommunikationsflächen. Während sie aus den vorbeiziehenden Tableaus aus Augen, Nasen und Mündern mühelos Gefühle und sogar Attraktivität und Alter ablesen können, verbergen sich ihnen die Hinweise auf die Individualität ihres Gegenübers.
Wenn Gesichtsblinde die Bilder beschreiben, die in ihrer Erinnerung von anderen Menschen hinterlegt sind, erinnert das an ein berühmtes Bild des Surrealisten Magritte: ein Mann im Anzug, untadelig von der Hutspitze bis zu den Bügelfalten. Trotzdem ungewohnt, denn ein großer grüner Apfel nimmt die Sicht auf das, was ihn persönlich ausmacht, sein Gesicht. Prosopagnostiker beschreiben detaillierte Gestalten mit leeren oder schemenhaften Flächen zwischen Stirn und Hals. "Bei Prosopagnosie funktioniert alles ganz normal", sagt Thomas Grüter. "Nur die Zuordnung von Gesichtern zu einzelnen Personen hakt."
Seit die Grüters 2002 ihre Zahlen veröffentlichten, explodiert die Zahl der wissenschaftlichen Arbeiten zur Prosopagnosie. "Vor unserer Verbreitungsstudie hätte niemand angenommen, dass das so häufig ist", sagt Grüter. Mit einem Mal verfügen die Hirnforscher über zahllose Probanden, mit deren Hilfe sie eines der großen Rätsel der Wahrnehmung aufklären könnten. Wie funktioniert überhaupt Gesichtserkennung? Was macht sie so präzise? Wieso genügt ein Blick, um aus einer anonymen Masse einen alten Bekannten herauszufischen - auch wenn er gerade nur im Profil zu sehen und außerdem stark gealtert ist?