Indien lebt in seinen Dörfern, sagte schon Mahatma Gandhi. Ein junger Bürgermeister macht diese Prophezeiung wahr.
Der alte Mann hat Blumen dabei. Er brauche nichts, wolle dem Dorfvorsteher nur einen guten Tag wünschen. Er nimmt auf einem der Besucherstühle Platz und klagt ein wenig über seine schmerzenden Knie. Fast jede Woche kommt er ins Gemeindezentrum. Himanshu Patel, der Bürgermeister, bedankt sich und sagt dem Alten zum Abschied: „Ruh dich ein bisschen aus."
Er mag solche Begegnungen. Wenn Patel durchs Dorf geht, bleiben die Leute stehen und grüßen ihn. Manchmal kommt ein Schulkind auf ihn zugelaufen, lacht und berührt seine Füße, ein Zeichen des Respekts. Der 33-Jährige ist seit neun Jahren Bürgermeister - und berühmt in ganz Indien. Denn er hat ein Durchschnittsdorf im Bundesstaat Gujarat zu einer Vorzeige-Kommune gemacht.
Statt der typisch beige-grauen Einheitskluft indischer Beamter trägt er ein elegantes Hemd, die zwei oberen Knöpfe offen. Ein goldenes Armband schmückt sein Handgelenk und drei goldene Ringe mit Edelsteinen die linke Hand. Seine Familie zählt, wie viele Patels, zu den reichsten Landbesitzern im Ort. Nach der Unabhängigkeit Indiens bekamen sie das Land zugesprochen, das sie zuvor für einen Fürsten bestellt hatten. So sind sie zu Wohlstand gekommen. Himanshu Patel will, dass auch seine Mitbürger Chancen ergreifen können.
Viele Dörfer Indiens sind vernachlässigt. Müll liegt am Straßenrand, mit Glück sind die Hauptstraßen mit brüchigem Teer gedeckt, während der Regenzeit verwandeln sie sich in schlammige Schlaglochpisten. Abwässer rinnen durch die Gassen. Häufig fällt der Strom aus. Und die Frauen füllen Kanister am Dorfbrunnen und tragen sie auf dem Kopf nach Hause.
Patel, der sein Amt 2006 antrat, eifert ihm nach. Er erscheint morgens um halb zehn meist auch am Wochenende im Gemeindezentrum und fährt oft erst nach Einbruch der Dunkelheit um sieben oder acht nach Hause. Dabei ist sein Posten nur ein Halbtagsjob. „Wenn du etwas angehst, dann tu es mit Hingabe und widme dein ganzes Leben dieser Sache." Dieses Zitat von Vivekananda steht auf einem Plakat am Ortseingang.
Seine Mitarbeiter waren anfangs nicht begeistert von seinem Enthusiasmus. Patel wollte loslegen, hatte aber keine Ahnung, wie öffentliche Verwaltung funktioniert - und seine Leute hatten keine Lust, ihm zu helfen. Also arbeitete er sich durch Gesetzestexte und das 300 Seiten dicke Regelbuch für Dorfvorsteher. Und lernte, wie er Geld auftreiben konnte.
Die Kommunen in Indien bekommen keine pauschalen Zuweisungen von der Zentralregierung. Stattdessen gibt es eine unüberschaubare Zahl an Förderprogrammen, die jeweils beantragt werden müssen - von öffentlicher Infrastruktur bis zum Bau von Toiletten in Privathäusern.
„Wegen mangelnder Bildung waren die Dorfräte früher nicht in der Lage, Prioritäten zu erkennen", sagt Indira Hirway, Direktorin des Center for Development Alternatives (CFDA), einem unabhängigen Forschungsinstitut in Gujarats Wirtschaftszentrum Ahmedabad. Sie erforscht die ländliche Entwicklung in Indien und kennt das Problem der zweckgebundenen Gelder. Nur Bürgermeister, die sich sowohl mit dem System auskennen als auch über die entsprechenden Kontakte verfügen, können es für ihre Dörfer nutzen.
Patel hat das unternehmerische Denken von seinem Vater gelernt, der neben seinem Job als Zeitungsreporter allerlei Geschäfte betreibt. Er vertraute seinem Sohn schon während des Studiums die Leitung einer Tankstelle an. Mittlerweile besitzt der Junior sieben Tankstellen und zwei Hotels.
Von seinem Vater lernte Patel auch, wie wichtig Kontakte zu Behörden auf höherer Ebene sind. Der Senior war selbst Dorfvorsteher gewesen, ebenso wie der Großvater - zu einer Zeit, als diese noch von der Bezirksregierung eingesetzt wurden. Die Patels gehören zwar einer niedrigen Kaste an, aber weil sie zu Wohlstand gekommen waren, zählten sie schon damals zu den Respektspersonen im Dorf.
Als der damals 23-jährige Patel sein Amt antrat, putzte er zunächst Klinken. Er ging von Behörde zu Behörde und wurde nicht ernst genommen. „Hol gefälligst deinen Vater her, haben sie zu mir gesagt", erinnert sich Patel und lächelt. Anfangs ließ er sich von Beamten des Bezirks auch ausnutzen. Sie verlangten, wie in Indien üblich, Schmiergeld, um Mittel für Punsari zu bewilligen. „Wenn einer nicht mitmacht, verzögern sie die Bearbeitung oder behaupten, es gebe für das entsprechende Projekt keine Gelder", sagt Patel.
Weil die Dorfkasse leer war, zahlte er aus eigener Tasche. Als er gelernt hatte, wie das System mit den Regierungsprogrammen funktionierte, war es damit vorbei: „Wenn ein Beamter behauptete, es gebe kein Geld, habe ich mich an anderer Stelle in der Behörde erkundigt. Wenn das nicht stimmte, habe ich mit dem Wissen bei der nächsthöheren Instanz angefragt. Sie hat dann Druck gemacht, und manchmal hat der Beamte sogar Ärger bekommen." Als Amtsträger in die eigene Tasche zu wirtschaften hat Patel nicht nötig, er ist ein wohlhabender Mann. Dennoch lebt er bescheiden mit seiner Frau, einer Lehrerin, seinem 13-jährigen Sohn und seinen Eltern in einem zweistöckigen Haus im knapp 30 Kilometer von Punsari entfernten Modasa. Es hat vier Schlafzimmer, eine kleine Küche, in der kaum alle gleichzeitig Platz zum Essen finden, und ein großes Wohnzimmer, in dem sich die Familie am Abend zusammenfindet, um indische Sitcoms zu schauen. Patels einziger Luxus ist ein Geländewagen aus China. Er fährt ihn selbst. Üblicherweise lässt sich ein Mann seines Status chauffieren.
Der Bürgermeister gibt sich volkstümlich. „Himanshu Bhai achtet nicht darauf, ob jemand arm oder reich ist und welcher Kaste er angehört", sagt Kamala Shah. „Früher habe ich mich nicht getraut, ins Gemeindezentrum zu gehen; das hat immer mein Mann erledigt." Jetzt sitzt die 51-Jährige auf einem der Besucherstühle vor Patels Schreibtisch. Sie braucht ein Empfehlungsschreiben, das sie als kreditwürdig darstellt. Patel weist seinen Assistenten an, es gleich auszustellen.
Sein Versprechen, sich um die jungen Leute zu kümmern, erfüllte Patel in Form eines Erwachsenenbildungszentrums. Solche Zentren existieren vielerorts in Indien, doch wenige sind so modern ausgestattet und bieten so viele Kurse an wie das in Punsari. Seit zwei Jahren gibt es dort Computerworkshops, Handwerks-, Näh- und Kosmetikkurse; demnächst soll eine Fahrschule für Frauen hinzukommen - alles kostenlos. Patel will die jungen Leute im Dorf halten.
Mehul Pancheel und seine Frau Yogina, 28 und 26 Jahre alt, sind in dem Zentrum als Lehrer angestellt. Sie steht vor einer Gruppe Frauen an Nähmaschinen und zeigt Schnittmuster. Ihr Mann sitzt im Nebenraum an einem Computer, gerade ist der Unterricht - es ging um Tabellenkalkulation - beendet. „Ohne diese Stelle hätte ich wahrscheinlich wegziehen müssen, um Arbeit zu finden", sagt Mehul Pancheel. Mit ihrem Gehalt und einer staatlichen Bauförderung konnten die beiden sogar ein neues Haus in Punsari bauen.
Sein Motto: Was nichts kostet, ist nichts wertDie neuen Möglichkeiten weckten den Unternehmergeist der Dorfbewohner, etliche eröffneten neben der Landwirtschaft ein Geschäft. Neben Babu Darjis Schneiderei sitzt ein Juwelier hinter der Theke seines Schmuckgeschäfts und arbeitet an einer Silberkette. Gegenüber packt der Besitzer einer Boutique Tüten mit neu eingetroffenen Hemden aus. Daneben liegt ein Krämerladen, der Drogerieartikel, Kekse und Limonade verkauft, gefolgt von einem Geschäft für Lenkdrachen und anderes Spielzeug. Allein auf den 300 Metern zwischen der Gemeindeverwaltung und dem Bildungszentrum gibt es mehr als ein Dutzend Geschäfte - ungewöhnlich für einen so kleinen Ort.
Genehmigungen sind hier leichter zu bekommen als andernorts, ebenso staatliche Förderungen - weil die Leute mittlerweile gut informiert sind. Das ländliche Indien kommt auch deshalb schlecht voran, weil die Menschen nichts von ihren Möglichkeiten wissen. „Es ist Aufgabe des Dorfvorstehers, sie darauf aufmerksam zu machen, etwa durch Versammlungen", sagt Indira Hirway vom CFDA. „Aber das passiert längst nicht überall."
Patel nutzt eine effiziente Methode: Er hat im ganzen Ort Lautsprecher installieren lassen. Jeden Morgen, nachdem das Gebet aus dem Tempel übertragen wurde, vermeldet er Neuigkeiten und informiert über neue Förderprogramme.
So hat Kamala Shah von dem Bankkredit erfahren, für den sie Patels Empfehlungsschreiben brauchte. Er richtet sich speziell an Frauen. Im Hinterzimmer ihrer Küche stapeln sich in Plastik verpackte Töpfe und Essgeschirr aus Edelstahl auf einem Regal. Ihr Mann führt einen Laden für Haushaltsutensilien. Shah will mit dem Kredit das Warenlager weiter aufstocken.
Die Lautsprecher knacken, dann schallt Patels Stimme durch die Straßen. Er spricht über einen Trauerfall und informiert über den Stand eines Hausbaukredits, den viele im Ort beantragt haben. Zum Schluss ruft er die Leute auf, ihre Steuern zu begleichen. „Wer pünktlich zahlt, bekommt einen Mülleimer umsonst", knarzt es aus den Lautsprechern. Jetzt klingt er wie ein Jahrmarktsschreier. Im Abstellraum des Gemeindezentrums stapeln sich grüne Plastikeimer. Der Distrikt hat sie für alle Orte bereitgestellt, die den Titel „Sauberes Dorf" tragen. Die Bürger müssten sie auch bekommen, ohne ihre Steuern zu zahlen - aber das behält Patel für sich.
In Punsari zahlen, anders als im Rest des Landes, nicht nur wegen solcher Tricks fast alle Bürger Steuern: „Sie sehen, dass wir mit ihrem Geld etwas für sie tun", sagt Patel. Er erhebt auch Gebühren auf alle öffentlichen Leistungen. „Es gibt nichts umsonst. Die Leute sollen die Leistungen wertschätzen."
Die Gebühren bleiben auch für die ärmeren Leute bezahlbar. Eine 20-Liter-Flasche gefiltertes Trinkwasser kostet etwa fünf Cent, die Müllabfuhr rund 40 Cent im Jahr für jeden Haushalt. So hat er die leere Haushaltskasse wieder aufgefüllt. Punsari steht jetzt mit rund 100.000 Euro im Plus.
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