Unser Boot gleitet über die spiegelglatte See und von weitem ist schon das Ziel unserer Reise zu sehen, die Isle of May, 45 Hektar groß und rund acht Kilometer von der schottischen Ostküste entfernt gelegen. Die Insel liegt als dunkle Silhouette auf den glitzernden Wellen, die unser Boot umspielen. Aber wir wissen, dass sie je nach Jahreszeit und Wetterlage ihr Aussehen gehörig verändern kann.
Die Isle of May gehört zu den am dichtesten besiedelten Gegenden Schottlands: Die Insel ist die Heimat von 200 000 Seevögeln, die hier brüten oder auf ihrem Weg zurück aus dem Süden im Frühling Rast machen. Seeschwalben, Tölpel und Papageientaucher haben hier das Sagen. Im Winter bringen die Seehunde auf der Isle of May ihre Babies zur Welt, ab März beginnt die Brutsaison der Seevögel. Keine Frage: Die Insel bietet einen einzigartigen Einblick in ein Stück naturbelassenes Schottland und die Besucherzahlen sind seit Jahren steigend.
Als wir langsam näher kommen, sehen wir Seehunde (grey seals), die sich auf den Felsen in der Sonne lümmeln. In Großbritannien leben 40 Prozent dieser Tiere weltweit. Auf den zahllosen Felsvorsprüngen sitzen Seevögel dicht an dicht und die Kameras klicken eifrig. Wir werden nun auch begleitet von einem halben Dutzend See-Kayaker, die das gute Wetter ebenfalls ausnutzen wollen und mit uns gemeinsam den kleinen Hafen anlaufen.
Dort erwarten uns Ranger des National Nature Reserve und geben eine kleine Einweisung. Der National Nature Reserve (NNR) managet die Insel. Niemand darf so einfach mir nichts dir nichts hier herumspazieren. Wir sind schließlich nur Gäste, und die Vögel sollen möglichst wenig beim Brüten gestört werden.
Den Hafen hat sich eine Kolonie Seeschwalben (terns) ausgesucht. Sie bevorzugen feinen Sand für den Nestbau, und sie sind von unserer Ankunft wenig begeistert.
Allerdings brauchen die Tiere die NNR-Ranger gar nicht, sie wissen sich auch sehr gut selbst zu helfen. Es herrscht ein ohrenbetäubender Lärm. Und dabei bleibt es nicht. Die Seeschwalben kommen im Sturzflug angesaust und wem sie einmal die Frisur zerzaust haben, der überlegt es sich in Zukunft sehr gut, wohin er seine Füße setzt.
„Es gibt nicht wenige Orte in Schottland, wo Sie der Natur und den Tieren so nahe kommen wie hier“, sagt einer der Ranger zu uns, der gerade in aller Seelenruhe durch so eine Traube nicht gerade friedfertiger Vögel hindurchmarschiert ist. Den Trick lernen wir schnell: Am besten ist es, einen kleinen Stock hoch über den Kopf zu halten. So kommen wir unbehelligt durch das Nistgebiet und haben nun mehr Ruhe dabei, die Insel zu erkunden.
Die Vegetation drückt sich in jeden noch so kleinen Windschatten, den die Steine zu bieten haben - und sei er auch noch so klein. Überall wachsen die für die schottischen Küsten so typischen, leuchtend gelben Flechten. Ein asphaltierter Weg führt uns hinauf zum höchsten Punkt der Insel, zu den beiden Leuchttürmen.
Auf der Isle of May wurde im Jahr 1636 gegen großen Widerstand der erste Leuchtturm in ganz Schottland gebaut. Manche Kritiker hatten religiöse Bedenken und andere meinten, die Kapitäne der havarierten Schiffe seien selbst Schuld an ihrer eigenen Dummheit. Einige Familien auf der Insel und entlang der Küste besserten ihr Einkommen auf, indem sie die havarierten Schiffe plünderten, und dementsprechend hatten auch sie kein Interesse an einer sicheren Fahrtroute in der Firth of Forth-Mündung.
Doch der Bauherr, Alexander Cunnynghame, ließ sich nicht beirren. So entstand ein viereckiger Turm, auf dem ein Kohle-Feuer brannte. Zwanzig Jahre später wurde der Turm noch einmal erweitert. Das Feuer verschlang nun pro Nacht zwischen einer und drei Tonnen Kohle. Dieses erste Leuchtfeuer brannte 180 Jahre lang und wurde erst 1811 von einem neueren Gebäude abgelöst, das Robert Stevenson baute, der Onkel des Schriftstellers Robert Louis Stevenson.
Wir haben uns bei den Leuchttürmen genug umgeschaut, gehen den Hügel wieder hinunter und packen vor dem kleinen Besucherzentrum nahe des Hafens unser Picknick aus. Ein Café oder Restaurant gibt es nicht auf der Insel. Dafür lernen wir in dem Besucherzentrum viel über die Tiere auf der Insel und die Arbeit der Vogelforscher.
In der Nordsee geht die Zahl vieler Seevögel zurück und die Forscher wollen unter anderem den Zusammenhang zwischen den schlechten Brutergebnissen und dem Klimawandel, sowie den Einfluss der Fischindustrie und der wachsenden Nutzung der Meere als alternative Energiequelle untersuchen.
Über die Insel fliegen Tölpel (gannets) hinweg. Sie sind die größten und schwersten Seevögel im Nordatlantik. Ihr Körper kann bis zu einem Meter lang werden und sie können ins Wasser eintauchen wie ein Torpedo. Die erwachsenen Tiere sind weiß, sie haben schwarze Flügelenden, einen pfirsichgelben Schnabel und eisblaue Augen. In Schottland gibt es den Spruch: „Gierig wie ein Gannet“ und tatsächlich können sich die Vögel so sehr mit Fisch vollfuttern, dass sie kaum starten können.
Ununterbrochen klicken die Fotokameras. Doch allmählich ist es Zeit, zum Boot zurückzukehren. Wir machen noch einen kleinen Abstecher zu den Ruinen einer Kapelle. Sie liegt in der Klippe mit dem viel sagenden Namen „The Pilgrim“ („Der Pilger“).
Es gibt einige Namen mit religiösem Bezug. So etwa Kirkhaven, der kleine Hafen im Osten der Insel, den wir mit unserem Ausflugsboot angelaufen sind. Der Hafen auf der Westseite heißt Altarstanes. Diese Namen haben natürlich mit der Geschichte der Insel zu tun.
Die frühesten Fundstücke von Menschen auf der Isle of May haben Archäologen auf rund 2000 Jahre vor Christus datiert. Der fruchtbare Boden spricht dafür, das die Insel einmal ein attraktiver Siedlungsort war. Mit Sicherheit aber war sie einmal ein wichtiges religiöses Zentrum. Der Heilige Adrian kam im 9. Jahrhundert als Missionar von Irland an die schottische Ostküste. Adrian wurde der erste Bischof von St. Andrews. Nachdem er im Jahr 875 von Wikingern auf der Isle of May getötet worden war, wurde die Insel ein viel besuchter Pilgerort. Im Jahr 1145 ging sie an ein englisches Benediktiner-Kloster. In den Wirren der schottisch-englischen Unabhängigkeitskriege im 14. Jahrhundert verließen die Mönche die Insel und ließen die Isle of May verlassen zurück.
Wir kommen wieder zur Anlegestelle zurück und sammeln uns am Boot. Auf der Insel gibt es kein Hotel. Die Vögel sollen nach unserer Abreise wieder ihre Ruhe haben.
Original