Es ist gegen 21 Uhr, als erste Klopfgeräusche durch die Straßen des Stadtteils Kadıköy schallen. Ein Pärchen schlägt mit Stangen auf eine Baustellenabsperrung ein. Daneben klimpert ein Mann mit einem Aschenbecher und einer Flasche. Und der Kellner Can steht vor seinem Café und trommelt auf eine Metalltonne, die als Bartisch dient. "Das ist das Einzige, was wir derzeit tun können", sagt Can, dessen Hals ein großes Tattoo schmückt.
Der Klang von Töpfen und Pfannen wurde in Istanbul vor vier Jahren zum Symbol des Widerstands gegen die autoritäre Regierung Erdoğans, die im Gezi-Park nahe dem Taksim-Platz, ihren Anfang nahm. Damals zeigten Anwohner Solidarität, indem sie von ihren Balkonen aus Lärm machten - mit klapperndem Geschirr. "So eine Form des alternativen Protests ist notwendig, da normale Demonstrationen derzeit zu gefährlich sind", findet Can. Da kann er noch nicht ahnen, was er selbst mitauslösen würde.
Am Tag nach dem Türkei-Referendum bezeichnet sich das Lager der Befürworter als Sieger. Lesen Sie die Geschehnisse des Wahlabends im Liveblog nach.
Denn nur eine Straßenecke weiter stehen auf einmal 15 Menschen zusammen. Sie klopfen jetzt nicht mehr jede und jeder einzeln, sondern im Rhythmus. Dann beginnen die Ersten zu rufen: "Es werden bessere Tage kommen! Wir werden nie still sein! Erdoğan, bald bist du dran!" Der türkische Präsident hatte gerade verkündet, dass die Ja-Wähler beim Verfassungsreferendum gewonnen hätten - obwohl gleichzeitig Anfechtungen der Oppositionsparteien laufen.
Diese Nachricht treibt auch die Krankenschwester Sinem und den Maler Önder auf die Straße. "Normalerweise bin ich politisch nicht aktiv, aber heute müssen wir die türkische Republik verteidigen", sagt der 36-jährige Önder. Als er das Klopfen hörte, ging auch er mit seiner Freundin nach draußen, schloss sich der Gruppe an der Ecke an. Die wächst nun schnell auf 50, dann 100 Menschen. Was Leuten wie Önder in diesem Moment nicht bewusst ist: Nicht nur sie, sondern Dutzende andere Grüppchen sammeln sich an verschiedenen Ecken Kadıköys. Sie alle wollen den angeblichen, knappen Wahlsieg des Ja-Lagers nicht hinnehmen. Nach und nach ziehen sie los und vereinigen sich mit anderen Gruppen. Zur Menschentraube um Sinem und Önder kommen auf einmal Hunderte andere Demonstranten aus einer Seitenstraße. Jubelnd begrüßen sich die Menschen, die sich so lange nicht mehr auf einer großen oppositionellen Demo gesehen hatten.
Normalerweise bin ich politisch nicht aktiv, aber heute müssen wir die türkische Republik verteidigen. Önder, 36. Maler aus IstanbulDie meist jungen Menschen setzen sich gemeinsam in Bewegung und rufen "Komm, komm!", um Anwohner aus ihren Wohnungen zu locken. In den Gesichtern der Demonstranten ist Ungläubigkeit zu sehen. Vielleicht verdauen sie noch das knappe Ergebnis beim Referendum, die Unklarheit ob möglicher Manipulationen. Oder sie sind überrascht von der Präsenz so vieler Menschen, die sich seit Monaten nicht mehr auf die Straße getraut hatten. Immer wieder wird gejubelt, wenn aus einer Seitenstraße neue Leute dazustoßen. An der Spitze des Zuges haken sich die Menschen gegenseitig unter. Es sind nun Tausende, aus Geschäften und von Balkonen hallt Applaus, es wird getanzt, auf einmal scheint alles möglich.