Draußen wehen die Fahnen wie immer. Die weiße mit der roten Aufschrift „Cumhuriyet" (auf deutsch: Republik), daneben die Nationalflagge der Türkei. Nur darunter patrouillieren seit Kurzem zwei schwer bewaffnete Polizisten. Drinnen im dritten Stock des aschgrauen Gebäudes in Istanbul sitzt Aydin Engin hinter seinem Schreibtisch. Seit Anfang November leitet der 75-jährige Kolumnist das bekannteste unabhängige oppositionelle Medium der Türkei, die Zeitung Cumhuriyet, als Interims-Chefredakteur. Der eine Chefredakteur, Murat Sabuncu, sitzt noch im Gefängnis; der andere, Can Dündar, im deutschen Exil.
Herr Engin, wird unser Gespräch abgehört?
Mit Sicherheit hören uns zwei, drei Leute vom Geheimdienst zu.
Und Ihnen macht das nichts aus? Sie werden trotzdem frei sprechen?
Unsere Antwort auf die totale Überwachung ist totale Transparenz. Alles was ich Ihnen erzähle, kann ich jederzeit woanders exakt so wiederholen.
Wie haben Sie die Nacht des Putsches am 15. Juli erlebt?
Ich war überrascht, ehrlich gesagt. Ich kenne einige Leute in Gülen-Organisationen, aber niemanden in Polizei oder Militär. Ich hätte nicht gedacht, dass die Organisation eine solche Schlagkraft hat. Gott sei Dank haben die Putschisten am Ende verloren, aber die Demokratie hat an diesem Abend trotzdem nicht gewonnen. Der Putsch war der Startschuss für eine Hexenjagd auf alle Regierungskritiker in der Türkei, die bis heute andauert.
Haben Sie Verständnis für das harsche Vorgehen der AKP gegen Regierungsgegner?
Klar müssen die Gülen-Anhänger bestraft werden, immerhin haben sie einen ziemlich blutigen Putsch versucht. Für das Vorgehen gegen die Opposition habe ich null Verständnis. Zunächst ging es noch gegen Fetö, dann gegen die Kurden, gegen Lehrer, Richter, Ärzte. Ich kenne einige Akademiker, die eingesperrt wurden. Die trinken Raki und sind Atheisten. Unmöglich, dass die zur muslimischen Gülen-Bewegung gehören.
Was will die AKP damit erreichen?
Die AKP ist gelebter politischer Islam, wie die Muslimbrüder in Ägypten. Und Islamismus und Demokratie gehen einfach nicht zusammen. Himmlische und menschliche Gesetze sind ein Widerspruch an sich. Schon 1998 hatte Erdogan gesagt: „Demokratie ist nur ein Zug, auf den wir aufsteigen, bis wir am Ziel sind". Sein Ziel ist ein islamischer Staat. Ein Albtraum für die Kopenhagener EU-Beitrittskriterien.
Das heißt, die EU will die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei zu Recht abbrechen?
Seit 190 Jahren blickt die Türkei nach Westen, jetzt kommt jemand wie Erdogan und sagt, er wäre gern Teil der „Shanghai Five" und will die Todesstrafe einführen. Er wendet sich von Europa ab - klar, dass das der EU nicht gefällt. Aber wir dürfen nicht vergessen: Erdogan hat 50 Prozent der Stimmen - und 50 ist nicht 100. Die EU war immer auch eine Bremse für alle anti-demokratischen Entwicklungen in der Türkei. Unsere Beziehungen sind im Moment im Kühlschrank - aber noch nicht in der Gefriertruhe.
In den westlichen Medien wird Erdogan oft als Diktator dargestellt. Ist er einer?
Noch nicht. Erdogans Traum ist es, Putin zu sein. Der behauptet von sich auch, dass er ein lupenreiner Demokrat ist. In Wirklichkeit ist er ein Oligarch, der mit seinen engsten Freunden und Beratern das Land regiert. Dahingehend versucht auch Erdogan gerade, die Verfassung zu verändern. Wenn das Präsidialsystem tatsächlich kommt, können wir der Demokratie „Tschüss" sagen.
Haben Sie noch irgendeine Hoffnung, dass die Verfassungsänderung abgewendet werden kann?
Ich bin wirklich kein Pessimist, aber meine Hoffnung ist gering. Bürgerschaft und Demokratie-Bewusstsein sind in der Türkei sehr schwach ausgeprägt. In Europa haben sich die Menschen in der französischen Revolution die Bürgerschaft erkämpft, in der Türkei sind sie am 28. November 1923 mit Sultan ins Bett gegangen, am 29. sind sie als Bürger einer Demokratie erwacht und haben das nie wirklich verinnerlicht. Auf die Türkei warten dunkle Tage, Wochen und Monate. Aber wir als Journalisten geben nicht auf.
Sie waren lange Zeit nebenberuflich als Theaterregisseur tätig. Wie würden Sie die Situation in der Türkei aufarbeiten?
Selbstverständlich als Komödie. Mit Sultan Tayyib als Hauptprotagonisten: Ein Mann ohne Uni-Abschluss, der Buchhalter gelernt hat und sich für einen Wirtschaftsexperten hält. Der aus einem Istanbuler Stadtteil kommt, der berühmt ist für seine Gauner und Ganoven; für so einen wäre ein Präsidentenposten normalerweise ein paar Nummern zu groß - aber sein Ego ist noch größer. Das wäre ein lustiges Stück - aber ich glaube, öfter als einmal könnte ich es nicht aufführen.
Haben Sie keine Angst?
Selbstverständlich habe ich Angst. Persönlich, aber vor allem um die Zeitung und die Kollegen. Aber mal ehrlich, was habe ich zu verlieren? Ich bin 75 Jahre. Die jungen Kollegen, die Familien und Kinder haben, die müssen sich tatsächlich fürchten. Ich fühle mich morgens immer wie ein leninistischer Agitator, wenn ich versuche, meine Freunde in der Redaktion zu motivieren: „An die Arbeit Kolleginnen und Kollegen, habt keine Angst! Keine Panik, uns wird nichts passieren!" Manchmal weiß ich selbst nicht, ob das nicht nur leere Phrasen sind.
Wieso machen Sie trotzdem weiter?
Klar könnte ich mich jetzt zurückziehen in mein Ferienhaus auf der Marmara-Insel und mir mit meiner Rente ein schönes Leben machen. Aber wie könnte ich mich dann noch im Spiegel ansehen? Ich will meinen Enkelkindern ohne Scham Geschichten erzählen können. Sie sollen nicht sagen: „Unser Großvater war Aydin Engin, und er hatte Angst". Nein, ich bin jetzt 75, ich war immer Journalist und werde, bis ich sterbe, für Demokratie, Laizismus und Meinungsfreiheit einstehen.
Das Gespräch führten Bartholomäus von Laffert
und Nico Schmolke