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Wohnst du noch?

Steht in Berlin die Enteignung großer Immobilienkonzerne bevor?
Von Nelli Tügel

Eine wichtige Legende bürgerlicher Ideologen besagt, dass jene, die sich eine nichtkapitalistische Welt vorstellen können oder auch nur der Profitorientierung in allen Bereichen des Lebens etwas Einhalt gebieten wollen, nicht ernst zu nehmende Sonderlinge seien. In den neunziger Jahren hatten sie es damit leicht, seit einiger Zeit aber muss man sich bei der Ideologieproduktion schon etwas mehr Mühe geben. Nachdem der inzwischen "geläuterte" Kevin Kühnert vor zweieinhalb Jahren in einem "Zeit"-Interview über die Kollektivierung von BMW gefachsimpelt hatte, sahen sich die BMW-Erben Susanne Klatten und Stefan Quandt gezwungen, mit dem "Manager-Magazin" über die Schattenseiten des Kapitalistendaseins zu sprechen - was bemerkenswert war, denn die beiden äußern sich fast nie öffentlich. Wahrscheinlich hätten sie auch Kühnerts Geplapper geflissentlich ignoriert, wäre nicht im Frühjahr 2018 die damals schon vielbeachtete Berliner Kampagne zur Enteignung großer Immobilienkonzerne und Vergesellschaftung von Wohnraum - genauer gesagt von etwa 250.000 Wohnungen - an den Start gegangen.

Denn nichts schreckt die Verteidiger und Profiteure des in der BRD als "soziale Marktwirtschaft" verniedlichten Kapitalismus mehr, als wenn die Ideen der vermeintlichen Sonderlinge sich in den Augen einer Mehrheit als vernünftig darzustellen drohen. Genau das ist jetzt passiert. 56,4 Prozent - bei einer Beteiligung von 75 Prozent der Wahlberechtigten - haben am 26. September in Berlin mit Ja für den Volksentscheid der Initiative "Deutsche Wohnen & Co. enteignen" gestimmt. Das sind über eine Million Stimmen, mehr, als jede andere Partei bei den parallel abgehaltenen Abgeordnetenhauswahlen erhielt, sogar mehr, als die drei (bisherigen) Berliner Regierungsparteien - SPD, Grüne und Linkspartei - zusammen auf sich vereinen konnten. Nur 39 Prozent votierten mit Nein.

"Drei Jahrzehnte nach dem Mauerfall findet in Berlin eine Mehrheit der Wähler wieder Gefallen am Enteignen der Wirtschaft", warnte tags darauf eine deutlich konsternierte Heike Göbel in der "FAZ". Der Volksentscheid breche mit dem, "was Deutschland stark macht: der sozialen Marktwirtschaft". In Springers "Welt" schrieb Michael Fabricius, seines Zeichens "leitender Redakteur Immobilien", es handele sich bei denen, die für die Vergesellschaftung gestimmt haben, "ganz offensichtlich nicht nur um verblendete Radikale". Die Enteignungsinitiative habe "fast so etwas wie einen breiten gesellschaftlichen Konsens hergestellt". Das ist das eigentlich Beeindruckende - und für manche eben besonders Gefährliche - an dem Entscheid, der deshalb umgehend in Frage gestellt werden musste. So deckte die "BZ" am Tag nach der Wahl auf, die Kampagne sei "von langer Hand vorbereitet" gewesen und gebe sich zu Unrecht "den Anstrich eines unabhängigen Bürgervereins". Solche Kommentare dienen auch der Verarbeitung der eigenen, sich im Abstimmungsergebnis spiegelnden vorläufigen Niederlage, denn schließlich hatte man drei Jahre lang eifrig gegen die Vergesellschaftung argumentiert, im Verein mit der Immobilienlobby, der SPD, FDP, CDU, AfD und Teilen der Grünen. Gegen diese Einheitsfront hat sich "Deutsche Wohnen & Co. enteignen" durchgesetzt - da kann einem schon mal schummrig werden.

Wer am Ende als Sieger aus der Auseinandersetzung hervorgeht, ist jedoch noch lange nicht ausgemacht. Denn vor allem Franziska Giffey (SPD) wird als neue Berliner Bürgermeisterin alles tun, um die Umsetzung des so deutlichen Votums zu verhindern. Schon im Wahlkampf hatte Giffey Enteignungen zu ihrer "roten Linie" erklärt. Ein Senat unter ihrer Führung wird verschleppen, auf Zeit spielen und durch Deals mit den Immobilienriesen - wie es die SPD schon mit dem von ihr eingefädelten Rückkauf von 14.500 Wohnungen während des Wahlkampfes versuchte - dem Volksentscheid den Wind aus den Segeln nehmen wollen. Auch wird die SPD weiterhin ihr Hauptargument gegen die Pläne von "Deutsche Wohnen & Co. enteignen" in Stellung bringen: Die Enteignungen seien "zu teuer".

Tatsächlich steht die Höhe der zu tätigenden Entschädigungszahlungen noch gar nicht fest. Diesbezüglich stand auf dem Abstimmungszettel, sie solle deutlich unter Marktwert liegen. Die Kampagne hat überdies einen konkreten Finanzierungsvorschlag vorgelegt, der es ermöglichen würde, die nötigen Mittel aufzubringen, ohne dass die Stadt neue Schulden aufnehmen müsste. Der Volksentscheid war allerdings kein Gesetzes-, sondern ein Beschlussentscheid, das heißt, es wurde nicht über den - existierenden - Gesetzesvorschlag der Kampagne abgestimmt, sondern darüber, ob der Senat alle Schritte unternehmen solle, die nötig sind, um die geforderte Vergesellschaftung in Angriff zu nehmen. Auf den ersten Blick mag das als Einfallstor für seine Verhinderung erscheinen, aber in Berlin sind bereits mehrfach Volksentscheide wegen Details in den zur Abstimmung stehenden Gesetzestexten kassiert worden.

Obwohl also nicht über ein Gesetz abgestimmt wurde, ist eine juristische Auseinandersetzung zu erwarten. Die Gegner der Vergesellschaftung verweisen gerne darauf, dass diese "verfassungswidrig" sei, obgleich mehrere Rechtsgutachten zu einem anderen Schluss gekommen sind. Denn mit der Verfassung ist das so eine Sache: Auch die Kampagne "Deutsche Wohnen & Co. enteignen" beruft sich auf das Grundgesetz, konkret auf Artikel 15, der besagt, dass "Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel ... zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden" können. Dieser Bezug mag so manch radikalem Linken gegen den Strich gehen, ihm ist aber zweifelsohne ein Teil des Erfolgs der Kampagne zuzuschreiben.

Die Aktivistinnen und Aktivisten sehen sich im Recht, im wahrsten Sinne des Wortes - wenngleich der Artikel 15 in der Geschichte der Bundesrepublik noch nie angewandt wurde. Insofern steckt in dem Berliner Volksentscheid und dem zu erwartenden Streit über seine Umsetzung auch ein möglicher Präzedenzfall. Hier hat die "FAZ" mit ihrer Sorge um die "soziale Marktwirtschaft" einen Punkt: Sollten die Forderungen der Kampagne tatsächlich umgesetzt werden, wäre das mehr als ein grandioser Sieg der Gemein- über die Immobilienwirtschaft in der Hauptstadt, denn dann würden sich auch anderswo Menschen fragen, was es mit diesem Artikel 15 auf sich hat. Das ist noch nicht der Kommunismus, doch das Unwohlsein, das die Apologeten des Kapitalismus verspüren, ist sehr wohl angebracht.

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