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Ein linkes Herzensprojekt?

Im Herbst 1943 wurde die Europäische Union verraten. An die Gestapo. Daraufhin kamen ihre Mitglieder in Haft. Man verurteilte sie zum Tode. Am 8. Mai 1944, genau ein Jahr vor der Befreiung, wurden in Brandenburg drei der Urteile vollstreckt, Georg Groscurth, Paul Rentsch und Herbert Richter enthauptet. Insgesamt verloren mehr als zehn Mitglieder der EU ihr Leben.

Die Hoffnung der Widerstandsgruppe, die nicht ahnen konnte, dass einmal ein Staatenbund sich denselben Namen geben würde wie sie, waren die Vereinigten Staaten von Europa. Und diese würden, da war sich die EU ganz sicher, sozialistisch sein. »Ohne Überwindung der nationalistischen, privat-kapitalistischen und imperialistischen Struktur des jetzigen Europa werden die Opfer und das namenlose Elend der Massen auch diesmal vergeblich sein«, schrieben sie in einem Flugblatt.

Die EU war keineswegs die erste Gruppe, die die Idee eines sozialistischen Kontinents, der die Nationalstaaten überwunden haben sollte, in die Losung der »Vereinigten Staaten von Europa« goss. In Erwartung einer deutschen Niederlage schrieben Antifaschisten Programme, Manifeste, ja ganze Verfassungsentwürfe für ein geeintes Europa nach dem Krieg. Damit standen sie in einer Traditionslinie der Linken und Arbeiterbewegung, die sich im 19. und besonders in den ersten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts herausgebildet hatte. Um den Kontinent fand zu dieser Zeit eine leidenschaftliche Debatte statt - und dazu gehörte auch die Frage, ob die Vereinigten Staaten von Europa ein Ziel, ob sie als Losung geeignet, ob und unter welchen Bedingungen sie überhaupt möglich seien.

So wie heute unterschied sich dabei erheblich, was unter den Vereinigten Staaten verstanden wurde: Die Vorstellungen reichten von einer europäischen Föderation sozialistischer Staaten, einer demokratischen Republik bis zu einer europäischen, demokratisch verfassten Zollgemeinschaft auf kapitalistischer Grundlage. Anders als heute allerdings - wo die bekannteren Vertreter der Losung, wie Martin Schulz von der SPD, die neoliberale FDP, Teile der Grünen oder Intellektuelle wie Robert Menasse sich darüber, ob die Vereinigten Staaten von Europa nun zum Sozialismus führen oder ihn voraussetzen, wahrlich nicht den Kopf zerbrechen - waren Linke, Sozialisten, Kommunisten und Gewerkschafter in der »Europadiskussion« zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht randständig: Ganz im Gegenteil.

Dass diese Debattentradition heute eine eher vergessene ist, wie der Historiker Willy Buschak in seinem Buch »Die Vereinigten Staaten von Europa sind unser Ziel« konstatiert, hat Gründe: Da ist das durch die Deutschen auf dem Kontinent angerichtete Vernichtungswerk. Da ist aber auch der Stalinismus, der mit der Theorie des »Sozialismus in einem Land« ab der zweiten Hälfte der 1920er Jahre aus einer Not eine dogmatische Tugend machte und dem beispielsweise das im Forderungsrepertoire der Komintern enthaltene Ziel der Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa 1928 zum Opfer fiel.

Folgt man dem Bundestagsabgeordneten Fabio De Masi (Linkspartei), so gibt es neben diesen historischen Ursachen für den Bedeutungsverlust der Idee der Vereinigten Staaten noch einen weiteren Grund dafür, dass sie heute kaum noch die linke Hoffnung versprüht wie einst: die EU. Bei einer Diskussion diese Woche im Berliner Ensemble mit der wiederum leidenschaftlichen Anhängerin einer europäischen Republik, Ulrike Guérot, zeigt er sich darum äußerst skeptisch gegenüber der Idee einer Auflösung der Nationalstaaten in Europa. Kennt er die Debatte um die Vereinigten Staaten von Europa? Ja, sagt De Masi. Sein Großvater sei Partisan in Italien gewesen, das Manifest von Ventotene, 1941 unter anderem verfasst von dem Kommunisten Altiero Spinelli, sei für die Antifaschisten wichtige Referenz gewesen. In dem Manifest wird ein europäischer Bundesstaat gefordert. Es heißt, »die erste Aufgabe, die angepackt werden« müsse nach dem Krieg, sei »die endgültige Beseitigung der Grenzen, die Europa in souveräne Staaten aufteilen«. Zudem sollten künftig »nicht die wirtschaftlichen Kräfte den Menschen beherrschen, sondern von diesem (...) kontrolliert werden«. Im BE weist nun De Masi darauf hin, wer sich so in der 2010 gegründeten »Spinelli Group« des EU-Parlaments engagiere. Elmar Brok zum Beispiel, der Europadino von der CDU. »Das zeigt, was aus dieser Idee geworden ist«, meint De Masi. Mit dem, was Spinelli und Genossen wollten, hat die Gruppe, mitinitiiert vom Chef der liberalen ALDE-Fraktion Guy Verhofstadt, in der Tat nicht viel gemein.

De Masis Kontrahentin in der Debatte, Guérot, beschreibt ihre Idee der europäischen Republik als Weiterentwicklung der EU mit den Worten »ein Markt, eine Währung, eine Demokratie«. Vieles von dem, was De Masi an dieser Idee kritisiert, hat mehr als 100 Jahre zuvor Rosa Luxemburg vorweggenommen - auch wenn sie die von De Masi im BE präsentierte Schlussfolgerung, wegen des Charakters der EU den bürgerlichen Nationalstaat zu schützen, sicherlich nicht geteilt hätte. Denn Luxemburgs Kritik war radikal antinational. De Masi argumentiert, dass der Sozialstaat besser funktioniere, je kleiner die Einheiten seien, auf die er sich beziehe. Je anonymer die Gebilde, desto schwerer habe es das Soziale, das er stärken möchte. Ein Bundesstaat Europa sprenge die Solidarität.

Luxemburg hatte 1911 etwas anders argumentiert: In den »Friedensutopien« schimpfte sie, ein jedes Mal, »wo bürgerliche Politiker die Idee des Europäertums, des Zusammenschlusses europäischer Staaten auf den Schild erhoben«, sei dies eine »imperialistische Mißgeburt«. Und wenn die Sozialdemokraten »diesen alten Schlauch mit neuem, scheinbar revolutionären Wein zu füllen« versuchten, sei die Konsequenz »nicht auf unsrer, sondern auf bürgerlicher Seite«, so Luxemburg. Sie hielt die Vereinigten Staaten zudem für gar nicht machbar auf kapitalistischer Grundlage. Und zwar, weil die heftigsten Gegensätze und Konkurrenzkämpfe »innerhalb Europas unter den kapitalistischen Staaten« existierten. Für ein geeintes Europa als reine »Idee« hatte sie nichts übrig. Moderne Staaten seien schließlich »nicht künstliche Produkte einer schöpferischen Phantasie, (...), sondern historische Produkte der wirtschaftlichen Entwicklung«. Sie verwies darauf, dass ein europäischer Zusammenschluss, von »bürgerlicher Seite« aufgeworfen, »nichts anderes als eine Zollgemeinschaft zum handelspolitischen Kriege gegen die Vereinigten Staaten von Amerika« sei.

Was für Luxemburg als Argument gegen die Losung der Vereinigten Staaten diente, war anderen im Gegenteil ein Grund, diese anzustreben. So hieß es in der »Betriebsräte-Zeitschrift« 1926, eine Zollunion habe den Vorteil, dass sie der europäischen Wirtschaft den Wettlauf mit den USA erlauben sowie »eben die Abwehr des überseeischen Protektionismus ungemein erleichtern« würde. In diese Richtung argumentierten in der Debatte einige, sowohl Sozialdemokraten als auch Gewerkschafter.

Doch selbst die Vorstellung derer, die gegen eine Zollunion bürgerlicher Staaten nichts einzuwenden hatten oder diese gar anstrebten, war weit von dem entfernt, was 1957 als Europäische Wirtschaftsgemeinschaft begründet und zur heutigen EU weiterentwickelt wurde. Alles, was dieser fehlt - insbesondere soziale Rechte und starke Demokratie -, waren Säulen des vereinigten Europas, das sie sich vorstellten.

Einige Fragen, um die die Europadebatte kreiste, waren vor 100 Jahren ganz ähnliche wie heute. Verschoben haben sich allerdings die Koordinaten, innerhalb derer sie gestellt werden. Vornehmlich, weil es mit der EU eben ein europäisches Integrationskonstrukt gibt, das mit all seinen Schwächen und Stärken heute den Denkrahmen setzt, in dem Linke Europa debattieren. So auch bei dem Streitgespräch zwischen Fabio De Masi und Ulrike Guérot: Dort betonen beide, die jetzige EU nicht mehr zu wollen, doch reicht ihre Phantasie kaum über sie hinaus. Guérot will die EU durch die Republikwerdung verändern, beschreibt dies als konsequenten nächsten Schritt nach Binnenmarkt und Euro - sie will Rechtsgleichheit aller Bürger, die antikapitalistische Intention vergangener Republiksutopien spielt in ihrer Argumentation keine Rolle. Bei De Masi auch nicht, der, quasi spiegelbildlich zu Guérot, mit Verweis auf die EU und ihr Versagen vor allem im sozialen Bereich, vor der Idee einer europäischen Republik warnt. Die EU selbst habe, so sein Argument, die einst mit progressiven Hoffnungen verbundene Losung der Vereinigten Staaten von Europa beschädigt.

Darauf, wie die Kräfteverhältnisse geändert und - konkret - der jetzige Zustand Europas überwunden werden können, kommt die Sprache im BE nicht. Und das wiederum ist symptomatisch für die heutige Debatte, wo sich die so unzureichend attribuierten linken »Proeuropäer« den linken »EU-Skeptikern« mitunter unversöhnlich gegenüberstehen. Beide Seiten haben gute Argumente, aber keine einen rechten Plan, da ihre Ideen eben an den Kräfteverhältnissen scheitern. Denn ob nun Vereinigte Sozialistische Staaten, Republik oder reformierte EU: Bei den jetzigen Verhältnissen in der EU wie auch in den meisten EU-Ländern wird es nichts davon geben.

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