Hannover. Anklagen statt wegschauen, sich wehren statt in Abhängigkeiten zu geraten: Darum gehe es, sagt der Sozialpsychologe Heiner Keupp - auch im Hinblick auf sexuelle Übergriffe, wie zuletzt im Weinstein-Skandal.
Die US-Polizei hat in den vergangenen Wochen Ermittlungen gegen den Hollywood-Filmproduzenten Harvey Weinstein eingeleitet. Ihm wird sexuelle Nötigung vorgeworfen. Viele Menschen - wie Kult-Regisseur Quentin Tarantino - wussten davon, haben aber nichts unternommen. Wieso kommen Menschen wie Weinstein so lange mit ihrem Verhalten durch?
Es gibt einflussreiche Netzwerke von Männern, die sich unterstützen. Haben sie das Gefühl, „Diesen Typen brauch ich noch für mein berufliches Fortkommen", sinkt die Bereitschaft, ihn mit seinem übergriffigen Verhalten zu konfrontieren. Das ist für die Karriere zu gefährlich.
Weinstein galt in Hollywood als Karriere-Macher. Stellte man sich gut mit ihm, konnte man aufsteigen. Kam man ihm in die Quere, zerstörte er Karrieren. Haben Menschen in solchen Machtpositionen freie Hand?
Es ist kein Naturgesetz, dass sexuelle Belästigung unkommentiert stehen gelassen werden muss. Weder als Opfer noch als Mitwisser. Niemand ist so mächtig, dass man sich ihm nicht verweigern könnte. Bei Weinstein war es wohl so: Wenn ich mich mit dem Mann einlasse, kann ich es schnell von Null auf 100 bringen. Das ist der Eros der Macht. Der Wunsch, Anteil an dieser Machtfülle zu haben, verführt. Beugt man sich diesen Mächtigen, macht man sich abhängig.
Menschen wie Weinstein werden also nur so mächtig, weil man sie nicht hinterfragt?
Auch. Es reicht jedenfalls nicht aus, nur über den Herrn Weinstein zu reden. Klar müssen wir über Netzwerke von Abhängigkeiten reden, in denen wenige das Sagen haben und andere sanktionieren können. Aber wir müssen auch darüber reden, dass jeder sich wehren kann. Wenn erwachsene Menschen nicht die Kraft aufbringen, Nein zu sagen, dann sind sie immer wieder ausgeliefert. Wenn sie sie nicht anklagen oder sich Verbündete suchen, werden solche Alphatiere immer durchkommen. Man kann lernen, Widerstand zu leisten.
Viele werden von solchen Machttypen überrumpelt.
Das ist schwierig, keine Frage. Aber als Erwachsener ist es nie zu spät, sich zu erheben. Etwas anderes ist es, wenn die Hilflosigkeit von Kindern ausgenutzt wird.
Trotzdem fällt es auch Erwachsenen schwer, Nein zu sagen. Wie erziehe ich meine Kinder so, dass sie als Erwachsene in der Lage sind, klare Grenzen zu ziehen?
Sie sollten ihr Kind darin bestärken, klar zu sagen, was es sich wünscht und was nicht - ohne dass es fürchten muss, abgestraft zu werden. Viele Erwachsene sehen aber nicht ein, mit ihrem Kind zu diskutieren, weil sie selbst nach der Methode „Ich dulde keinen Widerspruch" erzogen wurden. Erwarten Eltern aber komplette Unterwerfung und setzen diese mit Liebesentzug, Beschimpfungen oder dem Erzeugen eines schlechten Gewissens durch, rächt sich das. So lernen Kinder, dass es böse und frech ist, Menschen zu hinterfragen. Sie laufen Gefahr, sich von dominanten oder vorwurfsvoll auftretenden Personen einnehmen zu lassen.
Mittlerweile haben mehr als 40 Frauen Anschuldigungen gegen Weinstein erhoben. Darunter Angelina Jolie und Gwyneth Paltrow. Wieso müssen erst prominente Frauen ihr Schweigen brechen, bevor andere den Mund aufmachen?
In die Öffentlichkeit zu gehen ist ein großer Schritt. Erstens behauptet niemand gerne von sich: „Ich bin Opfer geworden". Zweitens befürchten Menschen, die Opfer sexueller Belästigung geworden sind, dass ihnen nicht geglaubt wird und sie als Unruhestifter gebrandmarkt werden. Es erfordert sehr viel Mut, als einzelne Person einen solchen Vorwurf zu erheben. Wagen sich andere etablierte Kollegen oder sehr bekannte Menschen vor, ist das ein starkes Signal.
Schauspielerin und Sängerin Courtney Love ist im Jahr 2005 auf dem roten Teppich gefragt worden, was sie jungen Frauen in Hollywood raten würde. Sie antwortete: „Wenn dich Weinstein ins Vier Jahreszeiten zu einer Party einlädt, geh nicht hin." Anschließend wurde sie von der Hollywood-Agentur CAA gesperrt.
Das ist ein Akt bewundernswerter Zivilcourage. Sie hat sich vor ihre jungen Kolleginnen gestellt und sie gewarnt.
... und einen hohen Preis bezahlt.
Das hat sie. Wie gesagt, es ist schwer, sich allein zu widersetzen. Deswegen sucht man sich am besten Verbündete. In Deutschland gibt es Selbsthilfegruppen, Beratungszentren und Internetforen - das sind alles Anlaufstellen, an die man sich wenden kann, wenn man nicht an die Öffentlichkeit gehen will. Gibt es im Freundeskreis oder in der Familie eine Person, der man absolut vertraut, sollte man auch diese einweihen. Dennoch gilt jederzeit: Sexuelle Belästigung ist eine Straftat. Man kann und sollte sie anzeigen.
Regisseur Tarantino hat seine Verlobungsparty von Weinstein ausrichten lassen und nun eingeräumt, von sexuellen Belästigungen gewusst zu haben. Welche Verantwortung kommt Mitwissern zu?
Gerade so ein etablierter Mann darf nicht schweigen! Es ist auch Aufgabe der Männer, den Mund aufzumachen. Gleiten die Gesprächsthemen in die Kategorie „schlüpfrig und frauenverachtend" ab, darf man nicht schweigen oder sollte den Kollegen zur Rede stellen. Damit wäre schon viel gewonnen. Je alkoholgeschwängerter die Stimmung wird und je größer die Runde, desto schwerer wird das natürlich. Niemand will Spielverderber sein. Muss man aber.
Männer, die Frauen verteidigen, müssen sich vorwerfen lassen, Weicheier zu sein.
Wer Angst vor dem Vorwurf hat, ein Weichei zu sein, ist eins! Das sagt sich so leicht, aber man kann dann ganz schnell auch selbst Ziel der Abwertung werden. Und man selbst würde sich dann auch wünschen, dass ein anderer Mensch Position bezieht. Das braucht Zivilcourage.
Gesetzt den Fall, eine gute Freundin verrät mir, dass sie sexuell belästigt wurde, bittet mich aber, niemandem davon zu erzählen - wie verhalte ich mich?
Grundsätzlich sollte man den Wunsch nach Diskretion respektieren. Dennoch gilt es das Gefühl zu vermitteln, dass man es nicht akzeptieren kann. Deswegen sollte man nach ein paar Wochen nachhaken und klarmachen: Das Verhalten dieser Person dir gegenüber ist nicht akzeptabel. Ich unterstütze dich und stehe dir bei.
Weinstein ist einer der Männer, denen bei den Oscarverleihungen am häufigsten gedankt wurde. Meryl Streep hat ihn als Gott bezeichnet. Und meinte jetzt wie viele andere, von sexuellen Übergriffen nichts gewusst zu haben.
Ich nehme das den Leuten nicht ab. Nach allem, was wir jetzt wissen, war es ein offenes Geheimnis in Hollywood. Das ist einfach Opportunismus. Überhaupt einem Menschen einen gottgleichen Status zuzuschreiben, verleiht ihm Allmacht, die keinem Menschen zusteht. Weinstein ist nicht Gott. Er ist nicht unangreifbar. Menschen haben immer nur so viel Macht über einen, wie man ihnen gibt.
Von Nadine Zeller/RND