Es gibt Tage im Leben eines Ermittlers, die sind düster. Bestimmte Beweismittel machen ihnen sehr zu schaffen. Die Rede ist von Kinderpornos, sexuellem Missbrauch an Kindern. Im Jahr 2015 wurden in Deutschland 13.760 Kinder Opfer von sexuellem Missbrauch. Die Kinder sind ihren Tätern ausgeliefert, hilflos, starr vor Angst. Landen Bilder und Videos, die den sexuellen Missbrauch eines Kindes zeigen, im Internet, beginnt für die Ermittler die fieberhafte Suche nach dem Täter.
Doch während die Opfer den Blicken der Betrachter ausgeliefert sind, schützen die Täter ihre Identität. Ihr Gesicht taucht so gut wie nie auf den Missbrauchsvideos und -bildern auf. Auch die digitalen Spuren des Materials verwischen sie. Um den Strafen des Rechtsstaates zu entgehen, solidarisiert sich die Szene. Im Darknet, eine Art verschlüsselter Bereich des Internet, kursieren etliche Anleitungen, wie GPS-Daten von Bildern unterdrückt und IP-Adressen von Computern verschleiert werden können. Tatort und Täter sollen unentdeckt bleiben. Gleichzeitig wartet die Szene begierig auf neue Bilder, die untereinander ausgetauscht wird. Entdecken die Ermittler Material im Internet, müssen sie davon ausgehen, dass der Missbrauch anhält. Für die Polizeibeamten zählt dann jede Sekunde. Manchmal greifen sie dabei zum äußersten Mittel und starten eine Schulfahndung.
Üblicherweise versuchen Beamte auf diese Form der halb-öffentlichen Fahndung zu verzichten. Vor allem dann, wenn es um sexuellen Missbrauch geht. Zu groß ist das Trauma der Opfer, zu schambehaftet der Missbrauch, als dass er mit der Öffentlichkeit geteilt werden sollte. Die Ermittler müssen jedes Mal neu abwägen. Denn trotz der offensichtlichen Belastung der Opfer überwiegen die Vorteile der Methode: Die Schulfahndung ist ein hochwirksames Instrument. In den vergangenen vier Jahren wurden von zwölf Missbrauchsfällen, elf innerhalb kürzester Zeit aufgeklärt.
Staatsanwalt Benjamin Krause von der Zentralstelle zur Bekämpfung der Internetkriminalität (ZIT) in Gießen engagiert sich seit 2012 gegen sexuellen Missbrauch. Unter anderem leitet er die Ermittlungen der Operation „Spade" in der Edathy-Affäre. „Die Schulfahndung ist aus einer Notsituation heraus entstanden: Wir haben uns gefragt, was wir tun können, wenn aus dem Videomaterial trotz akribistischster Forensik nicht hervorgeht, wer der Täter ist? Wenn alle unsere anderen Fahndungsmethoden uns dem Täter, nicht näher bringen, dann setzen wir dieses sehr moderne Instrument ein, weil wir glauben und mittlerweile auch wissen, dass uns das Opfer zum Täter führen kann." Die ZIT führt gemeinsam mit dem Bundeskriminalamt (BKA) bundesweite und international koordinierte Ermittlungsverfahren wegen Kinderpornografie und sexuellen Missbrauchs von Kindern durch.
Das kleinste Detail könnte den entsprechenden Hinweis liefern
Bevor die Schulfahndung eingeführt wurde, spielten die Ermittler folgenden Gedankengang durch: Jedes Kind in Deutschland muss zur Schule gehen. Also ist die Wahrscheinlichkeit, dass Grundschullehrer eines der Opfer schon einmal als Schüler hatten und wiedererkennen sehr hoch. Im Gegensatz zu den Fotos der Täter, liegen Bilder der Opfer den Ermittlern vor. Gelänge es also einem Lehrer ein betroffenes Kind zu identifizieren, wüsste man rasch, wo es wohnt und mit wem es Kontakt hat. Die Chancen den Täter zu finden, steigen enorm. Denn nach wie vor werden Kinder am häufigsten von Familienangehörigen missbraucht.
Sommer 2015. Im Netz tauchen Bilder von zwei missbrauchten Mädchen auf. Es handelt sich um zwei verschiedene Fälle. Ausländische Polizeidienststellen machen die Ermittler des Bundeskriminalamts in Wiesbaden auf das Bild- und Videomaterial aufmerksam. Die internationale Zusammenarbeit funktioniert gut. Sie muss. Das Internet ändert sich täglich. Zum Ziel kommt man nur in engem Austausch.
Die Profiler machen sich sofort an ihre Arbeit, nehmen jedes Foto unter die Lupe. Das kleinste Detail im Bild könnte den entsprechenden Hinweis liefern. Nach eingehender Untersuchung des neuen Materials steht bald fest, dass der Missbrauch in beiden Fällen in Deutschland stattgefunden hat. Dem richterlichen Beschluss steht nichts mehr im Wege.
Im Februar 2016 leitet die Zentralstelle zur Bekämpfung der Internetkriminalität eine bundesweite Schulfahndung ein. Jeder Lehrer der rund 15.000 Grundschulen wird von den Beamten der Landeskriminalämter darum gebeten, sich Fotos der beiden Mädchen anzuschauen. Die Beamten legen den Lehrern dabei Fotos mit den Gesichtsausschnitten der Mädchen vor, die Bilder sollen nicht den Missbrauch zeigen, um die Integrität der Opfer so gut es geht zu bewahren. In kleinen Bundesländern gehen die Polizisten persönlich in die Schulen. In größeren Bundesländer werden die Bilder auf einem besonders geschützten Server des Landes gespeichert und Aufforderungen per Email an die Schulleitungen verschickt, sich die Bilder anzusehen. Schon ein paar Tage später gehen bei den Ermittlern die ersten Hinweise ein.
Mehrere Lehrer glauben, eines der Mädchen erkannt zu haben. Wenig später wird auch das andere von einem Lehrer identifiziert. Auch wenn jede Sekunde zählt, müssen die Ermittler weiterhin sorgfältig vorgehen. Die Lehrer könnten sich auch irren. Bevor also die Familienangehörigen konfrontiert werden, versuchen die Beamten, möglichst viel im Voraus über das Kind zu erfahren. Wer kommt als Täter in Betracht? Hat sich das Kind in den vergangenen Monaten anders verhalten? Hat es Andeutungen gemacht? Leben die Eltern getrennt oder zusammen? Könnte die Mutter Mitwisserin sein? „Ein Großteil der Täter stammt aus dem engen häuslichen Umfeld. Bei den vergangenen Fahndungen waren es immer die Männer - entweder der Stiefvater, der Cousin oder der leibliche Vater", sagt Krause.
„Wenn du der Polizei davon erzählst, muss ich ins Gefängnis"
Am Ende der Ermittlungen klingeln die Beamten meist unangemeldet an der Haustür. Als Erstes versuchen die Ermittler, mit der Mutter zu sprechen. „Manchmal verhalten sich die Frauen der Verdächtigen nicht sonderlich kooperativ. Konfrontiert man sie jedoch direkt mit den Missbrauchsfotos, lassen sie ihre Zurückhaltung häufig sausen." Speziell geschulte Ermittler vernehmen die betroffenen Kinder. Wie das abläuft, schildert Matthias Wenz vom BKA in Wiesbaden.
„Gerade die erste Anhörung ist sehr wichtig, weil sie am unverfälschtesten ist. Manchen Kindern wird zu Hause gedroht. Es fallen dann Sätze wie: ‚Wenn du der Polizei davon erzählst, muss ich ins Gefängnis.' Deswegen führen wir dieses Gespräch nicht im häuslichen Umfeld, sondern auf dem Revier." Die meisten Täter gingen sehr perfide vor und bauten ganz bewusst über Monate ein Vertrauensverhältnis zu den Kindern auf. Die Kinder würden durch die Konfrontation mit dem Missbrauch wieder verletzt: „Missbrauchte Kinder sagen oft, das bin nicht ich. Selbst wenn die Mutter sagt: Aber das auf den Fotos bist doch du", sagt Staatsanwalt Krause. Trotz dieser schwierigen Gemengelage könne der Täter in den meisten Fällen schnell überführt werden. So auch im Fall der beiden Mädchen.
Am 3. März dieses Jahres - gerade mal 18 Tage nach Beginn der Schulfahndung nehmen Polizeibeamte in Leverkusen einen 40 Jahre alten Mann fest. Der Beschuldigte wird dringend verdächtigt, seit September 2012 seine heute neun Jahre alte Tochter sexuell missbraucht und Fotos des Missbrauchs im Internet verbreitet haben. Am 1. September 2016 verurteilte ihn das Amtsgericht Leverkusen zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten. Genau einen Tag später in Memmingen: Ermittler nehmen einen 45 Jahre alter Mann fest, der verdächtigt wird, seit Oktober 2013 seine heute 13-jährige Cousine schwer sexuell missbraucht zu haben. Auch er soll Fotos und Videos des Missbrauchs ins Internet gestellt haben. Er sitzt in U-Haft.
Die Polizisten unternehmen ihr Möglichstes, um die Fälle schnell aufzuklären. Dennoch schweben jeden Tag Kinder in Gefahr, missbraucht zu werden. „Sind die Täter in den Körper der Opfer der Kinder eingedrungen, werden diese Fälle ganz klar priorisiert", sagt Krause. Gemeinsam gewichten die Staatsanwälte der ZIT und die Ermittler des BKA die Fälle nach der Schwere des Missbrauchs und überlegen sich eine Taktik. Ist der mutmaßliche Täter identifiziert, geht es sehr schnell. Die ZIT beantragt einen Haftbefehl. Sobald dieser vollstreckt ist, geben Krause und seine Kollegen den Fall an die zuständige Staatsanwaltschaft des jeweiligen Bundeslandes ab. „Es geht darum, schnell zu reagieren. Ich hätte keine Ruhe, wenn ich wüsste, dass die Akte jetzt erst mal 14 Tage unterwegs ist", sagt Krause. Wie geht er mit all diesen düsteren Seiten seines Berufes um? „Ich bearbeite seit vielen Jahren Ermittlungsverfahren im Zusammenhang mit Kinderpornografie und Kindesmissbrauch. Das geht nur, weil ich gelernt habe, die Bilder und Videos gedanklich nicht mit nach Hause zu nehmen."
Im Schnitt fassen Kriminalbeamten den Täter 40 Tage nach Beginn der Schulfahndung. Pro Fall gehen rund zehn Hinweise von Lehrern ein. „Wir sind den Lehrern sehr dankbar für ihren Einsatz. Es ist nicht einfach, sich mit dem Gedanken auseinanderzusetzen, dass die eigenen Schüler Opfer von sexuellem Missbrauch sein könnten. Doch sie tun es, um zu helfen." Die Hilfe wirkt.