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Gesetze für die virtuelle Realität - Mein Avatar kennt keine Regeln

Virtuelle Realität wirkt so echt, dass sie auf unsere Psyche beeinflusst.

Unter ihm tut sich der Abgrund auf. Langsam lehnt er sich nach vorn. Da unten ist ein Kreis auf den Boden gezeichnet. Dort soll der Ball landen, den er in der Hand hält. Seine Handflächen sind feucht. Um besser zielen zu können, beugt er sich nach vorn. Ihm schwindelt.

An dieser Stelle beendet Wissenschaftler Michael Meehan von der University of South Carolina das Experiment. Seine Aufzeichnungen belegen, dass der Proband während des Versuchs starke Zeichen von Stress aufwies. Sein Herz schlug schneller, er schwitzte stark. Höchste Zeit also, den virtuellen Raum zu verlassen. Tatsächlich standen Meehans Probanden nicht auf einer Klippe, sondern auf einer Holzplatte, die gerade einmal 1,5 Zentimeter hoch ist - obwohl die Testpersonen das wussten, schlug ihr Körper Alarm. So authentisch wirkt die virtuelle Realität (VR) mittlerweile.


In diesem Jahr soll Virtual Reality den Durchbruch auf dem Massenmarkt schaffen. Die Hersteller hoffen auf steigende Absatzzahlen. Doch was macht es mit uns Menschen, wenn wir irgendwann mit unserem Avatar verschmelzen können? Neun Forscher aus verschiedenen Ländern - darunter Hirnforscher, Computerwissenschaftler und Philosophen - haben untersucht, wieweit unser Ich-Gefühl sich auf die digitalen Doubles übertragen lässt.


Die Anziehungskraft des Avatars

In einem von der EU geförderten Projekt ("Virtual Embodiment and Robotic RE-Embodiment") haben die Forscher fünf Jahre lang die Grenzen unseres Ich-Gefühls ausgelotet. Ihre Leitfrage lautete: Schaffen wir es, unser Ich-Bewusstsein dauerhaft an einen Avatar zu binden?


Der Philosoph Thomas Metzinger von der Universität Mainz begleitete die Forschergruppe, um später ethische Fragen in den Blick zu nehmen. Dabei nahm er selbst an mehreren Experimenten teil. Bereits 2007 trug er eine Virtual-Reality-Brille und wurde dabei gefilmt. "Ich sah mich also selbst von hinten. Und dann spürte ich, wie jemand meinen Rücken berührt", erzählt der Forscher. Es war der Doktorand.

Der Effekt war unheimlich: "Ich fühlte mich plötzlich zu dem Avatar hingezogen. Wie wenn ich mich auf ihn zubewegen würde." Dieses seltsame Gefühl, fachsprachlich als Awkwardness bezeichnet, sowie den Eindruck des Sich-hingezogen-Fühlens zum Avatar, den sogenannten Drift, versuchten die Forscher des Projekts erneut zu erzeugen.

Wie leicht Menschen dem Eindruck erliegen, fremde Gegenstände gehörten zum eigenen Körper, zeigten bereits vor 17 Jahren Wissenschaftler mit der Gummihandillusion. Der Proband schaut dabei auf die Attrappe einer Hand, während seine eigene verdeckt ist. Im Wechsel berührten Forscher sowohl die echte Hand als auch die künstliche mit einem Stab.


Das Ergebnis: Für die Versuchspersonen fühlt es sich in beiden Fällen so an, als würde ihre eigene Hand berührt. Das konnten die Forscher anhand der erhöhten Neuronenaktivität im sensomotorischen Zentrum des Gehirns nachweisen. Erlebnisse in der VR haben also Einfluss auf unsere körperliche Reaktion. Doch nicht nur das: Auch unser Verhalten ändert sich.


Dies wird beim sogenannten Proteus-Effekt deutlich, den die Wissenschaftler Nick Yee und Jeremy Bailenson von der kalifornischen Stanford University 2007 nachweisen konnten. Der griechische Gott Proteus besitzt in der Mythologie die Fähigkeit, seine Gestalt zu wandeln - wie heutige Avatare. Probanden, deren Avatar ein Superheld war, verhielten sich in ihren Experimenten selbstloser, weil sie davon ausgingen, dass dieses Verhalten von ihnen erwartet wurde.


Sorge vor dem rechtsfreien Raum

Empathisches Verhalten kann durch VR-Technik befördert, aber eben auch verringert werden. So fanden Yee und Bailenson auch heraus, dass Probanden, die von einem großen Avatar verkörpert wurden, aggressiver auftraten als jene mit kleineren Avataren. Das wirft auch ethische Fragen auf. Sind wir etwa empfänglicher für Werbung, wenn unser Avatar entsprechende Züge aufweist?


"Der Aufenthalt in der VR könnte zu Manipulation einladen oder eine Depersonalisation auslösen - also das Gefühl, dass der eigene Körper unwirklich ist", meint Psychologe Metzinger. Wie im Film "Die Truman Show". Darin taumelt Schauspieler Jim Carrey durch sein Leben, nachdem er erfahren hat, dass alles, woran er bisher glaubte, nur eine Show war.


Ist es das, was die virtuelle Realität aus uns macht? Noch kosten die meisten VR-Brillen über 500 Euro. Absehbar jedoch dürfte die Technologie für die Massen erschwinglich sein. Spätestens dann sollten, so fordern es etliche Wissenschaftler, ethische und rechtliche Standards für die VR definiert sein, um zu verhindern, dass sie sich zu einem rechtsfreien Raum entwickelt.


Genau das war der Auftrag, den Thomas Metzinger von der EU bekommen hat. "Eine Grundregel lautete: Was in der realen Welt strafbar ist, sollte auch nicht in der VR angeboten werden", sagt der Forscher. Dass sich das durchhalten lässt, scheint allerdings fragwürdig. Schon jetzt setzt etwa die Pornoindustrie auf Ganzkörperanzüge, die Sex noch authentischer machen sollen.


"In der VR existieren die sozialen, normativen und moralischen Hindernisse nicht. Es ist wahrscheinlich, dass dort Handlungen begangen werden, die in unserer Welt strafrechtliche Folgen hätten", sagt der Soziologe Dirk Helbing von der ETH Zürich. Der Forscher beschäftigt sich seit Jahren mit dem Einfluss der VR auf unser Leben. Neben den Gefahren sieht er sie auch als Erkundungsraum für wissenschaftliche Experimente. "Man könnte neue Wirtschaftssysteme ausprobieren oder künstliche Staaten mit einer alternativen Gesetzgebung erschaffen", sagt der Forscher.


Wie so etwas aussehen kann, hat eine Untersuchung mit Straftätern in Spanien gezeigt. Die Männer, die wegen Gewalt gegen Frauen verurteilt worden waren, konnten sich freiwillig melden, um an einem VR-Experiment teilzunehmen. Dabei schlüpften sie als Avatar in den Körper einer Frau, um sich in die Position ihrer Opfer hineinzudenken. Hilft uns VR dabei, andere Perspektiven einzunehmen? Wo liegt ihr Potenzial?


Lieber VR als echtes Leben
 

Viele Anwendungsgebiete jenseits der Unterhaltungsschiene werden gerade erst erschlossen: Forschung, Bildung, Medizin. Psychologen könnten Höhenangst in der virtuellen Welt behandeln, Makler Wohnungsbesichtigungen anbieten, gebrechliche Menschen die Pyramiden oder die Traumstände der Südsee besichtigen.

Die VR wird schon bald in alle Lebensbereiche eindringen. Gleichzeitig gibt es zahllose offene Fragen: Was macht es mit den Menschen, wenn ihr Avatar virtuelle Selbstmordattentate begeht? Was passiert, wenn der Avatar in der VR gefoltert wird? Kann das die Nutzer traumatisieren?


Oder andersherum: Angenommen, die VR führt uns an paradiesische Orte - wollen wir diese dann überhaupt noch verlassen? Schon jetzt gibt es in Japan Menschen, die nicht mehr aus der Wohnung gehen, weil sie Hardcore-Gamer und menschenscheu geworden sind. Die meist jungen Männer werden regelmäßig in Naturcamps geschickt, um buchstäblich wieder geerdet zu werden.


Virtuelle Folter bleibt Folter

Um die psychischen Folgen besser einschätzen zu können, fordert Psychologe Metzinger entsprechende Langzeitstudien. Dabei dürften die Probanden jedoch mit keinen Gefahren konfrontiert werden, die größer seien als in ihrem echten Leben. Folter sei auch in der virtuellen Realität als Folter zu werten.


Zum Schluss wartet Thomas Metzinger dann noch mit einem leicht schrägen Vergleich auf: "Nach dem Zweiten Weltkrieg haben sich die Menschen 15 Jahre lang auch total überfressen, bevor sie einen vernünftigen Umgang mit Lebensmitteln lernten. Womöglich müssen wir das bei der Virtual Reality auch."

Von Nadine Zeller

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