Menschen mit geistiger Behinderung haben ein erhöhtes Risiko, auch psychisch zu erkranken. Doch solche Störungen werden oft übersehen. Die Geschichte einer jungen Frau mit Psychose.
Larissa war 13 Jahre alt, als die Stimmen begannen, auf sie einzureden. Sie drohten ihr mit dem Tod. Kündigten an, sie aufzuessen. Machten sie nieder. Larissa schrie. Ihre Familie reagierte verstört und hilflos. Zureden, trösten, in den Arm nehmen - nichts half. Es dauerte Monate, bis die Mutter begriff, dass ihre Tochter unter einer schizophrenen Psychose leidet. Larissa ist seit ihrer Geburt geistig behindert. Die Eltern kannten Wutanfälle, Kämpfe und Trotzphasen. Aber das häufige Schreien, die vielen Tränen, das In-sich-gekehrt-Sein waren neu.
"Menschen mit geistiger Behinderung leiden zwei- bis dreimal häufiger an psychischen Störungen als nicht behinderte Menschen. Bei vielen wird das jedoch nie diagnostiziert", sagt Tatjana Voss. Die Psychotherapeutin behandelt an der Berliner Charité Menschen mit intellektueller Behinderung. Es ist ein kleiner ausgewählter Zirkel, der sich in Deutschland mit dem Thema auseinandersetzt. In England und Skandinavien ist die Problematik schon länger bekannt. "In Deutschland war man - salopp gesagt - lange Zeit der Meinung, dass Menschen mit Behinderung zu blöd sind, um eine psychische Störung zu bekommen", sagt Voss. "Das ändert sich so langsam."
Dass Larissa Stimmen hört, dieser Verdacht kam der Mutter erst allmählich. Auch ein Mitglied ihrer Herkunftsfamilie leidet unter einer Psychose. Doch wie erkennen Ärzte psychische Störungen bei Menschen, die kaum reden? Wie erfahren Therapeuten vom Innenleben ihrer Patienten, wenn diese keine Worte für ihre Emotionen finden?
Ein Besuch bei Larissas Eltern. Adel Mord und Andreas Faulmüller sind Diplombiologen und arbeiten im Gesundheitsbereich. Sie wohnen in Freiburgs Vorzeigestadtteil Vauban. Hohe Bäume säumen breite Radwege, an holzverkleideten Häusern prangen "Atomkraft, nein danke"-Plakate. Der Bioladen ist gleich um die Ecke. Das ist Larissas Welt.
Adel Mord rührt in einer Tasse Cappuccino und schiebt mit der freien Hand ein Buch über den Tisch, das sie gerade liest. Der amerikanische Autor Anton Dosen geht davon aus, dass Menschen mit Behinderung eine spezielle Diagnostik und Behandlung brauchen. Dieser Ansicht ist auch Psychotherapeutin Tatjana Voss. Immer wieder komme es zu Beobachtungsfehlern bei der Diagnostik, weil ein sogenannter Overshadowing-Effekt eintrete. "Viele Ärzte denken: ,Der schreit, weil er behindert ist.' Dabei ist das Schreien ein Symptom der psychischen Störung", so Voss. Um die Probleme zu erkennen, müsse man zunächst das normale Verhalten kennenlernen. Hinweise des Umfelds seien dabei ganz entscheidend. In Kinder- und Jugendpsychiatrien sei es schon seit Längerem üblich, dass Ärzte in engem Austausch mit den Eltern und der Schule stünden. Auch bei behinderten Menschen, die sich kognitiv und emotional ebenfalls häufig auf einem kindlichen Niveau befinden, sollte diese Praxis der Fremdbeurteilung öfter angewandt werden. Tatsächlich ist sie kaum etabliert. Der Grund: Das kostet Zeit und Geld.
Aus Michael Seidels Sicht ist das ein gesundheitspolitisches Problem. Der Psychotherapeut gilt als einer der wichtigsten Ansprechpartner in der Branche. Jahrelang war er leitender Arzt im Stiftungsbereich Behindertenhilfe Bethel. Für ihn ist es nicht neu, dass Menschen mit geistiger Behinderung schlechter versorgt würden, schon weil das Thema nicht ausführlich genug in der Ausbildung behandelt werde. Zudem bekämen die Krankenhäuser die Zusatzkosten, die durch die Behandlung behinderter Kinder entstehen, nicht angemessen bezahlt. "Es dauert einfach alles länger, die Informationsbeschaffung, die Untersuchungen, die Therapie." Doch der Mehraufwand sei nötig, um eine seriöse Diagnostik zu ermöglichen. Damit Menschen wie Larissa geholfen wird...
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