(natur, 19.9.14)
Noch nie wurden Lebensmittel so aufwendig verpackt wie heute. Einige Händler fordern nun: Weg mit dem Müll! Sie bieten Produkte zum Selbstabfüllen - zum Vorteil von Umwelt und Kunden.
Ein Blick auf den Einkaufszettel, ein Griff ins Regal, ab in den Einkaufswagen. Gekauft. Bis zu 40.000 Produkte gibt es in einem deutschen Supermarkt.Trotz der Vielfalt ist der Einkauf Routine. Im Bioladen des Ehepaars Deinet in Bonn gibt es nur ein paar hundert Waren. Trotzdem kommen auch geübte Einkäufer dort schon mal aus dem Takt.
„Wie geht das nochmal?“, fragt eine ältere Dame vor dem Müsli-Regal, bevor sie den schwarzen Hebel versuchsweise nach unten zieht. Müsliflocken rieseln in die mitgebrachte Kunststoffbox. Der erste verpackunsgfreie Einkauf hat geklappt. Wer bei den Deinets
kauft, muss einiges mehr tun als im normalen Geschäft: Behälter mitbringen, Behälter abwiegen, Behälter füllen. Am Schluss wiegt die Verkäuferin an der Kasse noch das Gewicht der abgefüllten Ware. „Es dauert vielleicht länger als im Supermarkt, aber dafür freuen sich alle Beteiligten über weniger Verpackungsmüll“, sagt die Inhaberin des Bioladens, Hilke Deinet.
Im Sommer haben sie und ihr Mann Tim „Freikost Deinet“ eröffnet. Die Geografin und der Lebensmittelanalytiker engagieren sich bereits lange in der Umweltbewegung und essen am liebsten das, was schonend auf Feldern in ihrer Region angebaut wurde. Jahrelang
hat Hilke Deinet den Klimawandel in der Antarktis erforscht, zwei Mal war sie für Messungen der Gletscherschmelze auf der Insel King George. Nun steht sie mit rot-weiß karierter Schürze im Laden und folgt ihrer Leidenschaft für den Wandel im Kleinen.
Ein Konsumdreiklang aus Abfüllen, Abpumpen, Abzapfen
Die Emanzipation vom Verpackungsmüll findet in Bonn auf gerade mal 90 Quadratmetern Verkaufsfläche statt. Doch auch in anderen Städten in Deutschland ist Bewegung in die Regale gekommen. Im Februar hat das Geschäft „Unverpackt“ in Kiel eröffnet. In
Berlin bietet bereits seit vier Jahren ein Bioladen unverpackte Produkte an. Zwei junge Frauen wollen demnächst ein weiteres Geschäft in der Hauptstadt eröffnen. Mittels Schwarmfinanzierung haben sie in kürzester Zeit das nötige Startkapital eingesammelt –
mehr als 100.000 Euro sind zusammengekommen.
Unverhüllte Waren bieten die bestehenden Läden vor allem im sogenannten Trockensortiment an: Getreideflocken, Nudeln, Bohnen, Nüsse. Die Händler füllen sie aus großen Säcken in Sammelbehälter. Die transparenten Spender bestehen aus langlebigem
Kunststoff. „Bei richtiger Pflege halten die ein Leben lang“, sagt Tim Deinet. Reinigungsmittel und Flüssigseife können die Kunden aus Kanistern abfüllen. Essig und Öl kommen aus Metall- oder Glasgefäßen. Ein Konsumdreiklang aus Abfüllen, Abpumpen und Abzapfen.
Die Kunden bringen Mehrwegbehälter mit oder können sie zum Teil vor Ort kaufen.
Einkaufen als Sinnenerlebnis: Wer Haferflocken aus dem Großspender rieseln lässt, hat den Geruch von Getreide in der Nase. Es staubt. Der Kunde spürt das zunehmende Gewicht in der Schale. Nach dem ersten Besuch fragt die Freikost-Kassiererin: „Wie war das Abfüllen?“ Auch so geht Event-Shopping.
Markenzeichen „Bulk Bins“
Durch den Verzicht auf die üblichen Klein- und Kleinsthüllen ersparen sich Händler und Kunden erstaunliche Mengen an Müll. Die Recycling-Initiative WRAP aus Großbritannien hat den Effekt in einer Studie im Jahr 2007 hochgerechnet. Beispiel Reis: Beim Vergleich zwischen einem Ein-Kilo-Beutel im Regal und einem 25-Kilo-Sack zum Umfüllen fallen bei einer Million verkauften Beuteln rund 16.000 Kilogramm weniger Verpackung an. 20.000 Kilo weniger Verpackung sind es bei Getreide, 38.000 Kilo bei Waschmittel aus dem Karton. Müll, der vermeidbar ist – wenn Händler und Kunden mitmachen.
Entstanden ist der Wunsch nach Produkten ohne Plastik ausgerechnet im Herzen des modernen Konsums: in den USA. Wegen der wachsenden Kunststoffmüllberge und des teils fehlenden Recycling-Systems gründeten in den 70er Jahren Umweltbewusste die ersten Geschäfte mit verpackungslosem Sortiment. Markenzeichen und Symbol der Verpackungsfrei-Bewegung sind die Sammelbehälter: „Bulk Bins“. Die verbreiteten sich auch in Kanada und Australien. Bei einem Praktikum im australischen Melbourne lernte Hilke Deinet das Prinzip kennen.
Für den Verkauf von Lebensmitteln ohne Verpackung gibt es kaum rechtliche Hürden – doch für die Händler steigen die Risiken. Während normalerweise der Hersteller nachweisen muss, dass das Produkt bis zum Erreichen des Haltbarkeitsdatums einwandfrei bleibt, steht nun der Ladenbetreiber in der Pflicht. „Wenn ein Kunde etwas reklamiert, muss der
Händler belegen, dass er die lose Ware richtig gelagert hat“, sagt Sieglinde Stähle, wissenschaftliche Leiterin beim Bund für Lebensmittelrecht und Lebensmittelkunde
(BLL). „Die Verpackung schützt die Authentizität eines Produkts.“
Größte Herausforderung bleiben die Kunden
Dazu kommen Vorteile beim Transport: Verpackungen schützen empfindliche Lebensmittel vor Schäden. Aber sie speisen auch die Müllberge. Auf jeden Bundesbürger kommen pro Jahr rund 90 Kilogramm an Verkaufsverpackungen. Die werden meist direkt nach dem Einkauf entsorgt und müssen aufwendig recycelt und verwertet werden. Für die Kunden bedeutet eine Verpackung zudem fast immer höhere Kosten. Bei Freikost Deinet in Bonn sparen die Kunden je nach Produkt pro Kilogramm bis zu einen Euro, sagt Hilke Deinet.
Doch es gibt Grenzen der Verpackungsfreiheit. Sie hört da auf, wo die Lebensmittelhygiene anfängt. Frisches Fleisch gibt es bei Freikost Deinet als fertige Portionen in Folie eingeschweißt. Käse und Wurst wickeln die Verkäufer für die Kunden in Pergaminpapier
ein. Wenn der Kunde eigene Behälter für Wurst und Käse mitbringt, wird es etwas komplizierter. Die Boxen dürfen nicht hinter die Theke gelangen, weil Keime an ihnen haften könnten. Der Verkäufer legt die Ware mit einer Zange in eine abspülbare Schale, aus
der sie sich der Kunde herausnimmt.
Größte Herausforderung für die Ladenbetreiber aber bleiben die Kunden, die den puristischen Konsum nicht gewohnt sind und nach abgepackten Produkten – etwa Rosmarin-Flüssigseife – fragen. „Im kleinen Paket haben wir die nicht mehr, aber im Kanister
zum Abfüllen“, sagt Hilke Deinet dann. Aus der Lebensmittelhändlerin ist längst eine Konsumpädagogin geworden. Wer nur benötigte Mengen einkauft, lernt, sich von den Verpackungsmaßen der Lebensmittelindustrie unabhängig zu machen.
Auch wenn die Suche nach Wegen aus dem Verpackungswahnsinn in Deutschland noch am Anfang steht, gibt es bereits Ladenbesitzer, die das Prinzip via Franchise in der ganzen Republik verbreiten wollen. Wenn tatsächlich bald die ersten Unverpackt-Ketten entstehen, dann dürften sich auch die großen Einzelhändler für das Thema interessieren. In Bonn liegt der nächste große Supermarkt nur eine Minute Fußweg von Freikost-Deinet entfernt. Gut
möglich, dass ein altgedienter Einzelhandelsmanager mal bei Hilke Deinet vorbeischaut, um sich zu informieren, wie er funktioniert, der Verkauf von unverpackter Ware. Hoffentlich hat er dann eine Mehrwegbox dabei.
Noch nie wurden Lebensmittel so aufwendig verpackt wie heute. Einige Händler fordern nun: Weg mit dem Müll! Sie bieten Produkte zum Selbstabfüllen - zum Vorteil von Umwelt und Kunden.
Ein Blick auf den Einkaufszettel, ein Griff ins Regal, ab in den Einkaufswagen. Gekauft. Bis zu 40.000 Produkte gibt es in einem deutschen Supermarkt.Trotz der Vielfalt ist der Einkauf Routine. Im Bioladen des Ehepaars Deinet in Bonn gibt es nur ein paar hundert Waren. Trotzdem kommen auch geübte Einkäufer dort schon mal aus dem Takt.
„Wie geht das nochmal?“, fragt eine ältere Dame vor dem Müsli-Regal, bevor sie den schwarzen Hebel versuchsweise nach unten zieht. Müsliflocken rieseln in die mitgebrachte Kunststoffbox. Der erste verpackunsgfreie Einkauf hat geklappt. Wer bei den Deinets
kauft, muss einiges mehr tun als im normalen Geschäft: Behälter mitbringen, Behälter abwiegen, Behälter füllen. Am Schluss wiegt die Verkäuferin an der Kasse noch das Gewicht der abgefüllten Ware. „Es dauert vielleicht länger als im Supermarkt, aber dafür freuen sich alle Beteiligten über weniger Verpackungsmüll“, sagt die Inhaberin des Bioladens, Hilke Deinet.
Im Sommer haben sie und ihr Mann Tim „Freikost Deinet“ eröffnet. Die Geografin und der Lebensmittelanalytiker engagieren sich bereits lange in der Umweltbewegung und essen am liebsten das, was schonend auf Feldern in ihrer Region angebaut wurde. Jahrelang
hat Hilke Deinet den Klimawandel in der Antarktis erforscht, zwei Mal war sie für Messungen der Gletscherschmelze auf der Insel King George. Nun steht sie mit rot-weiß karierter Schürze im Laden und folgt ihrer Leidenschaft für den Wandel im Kleinen.
Ein Konsumdreiklang aus Abfüllen, Abpumpen, Abzapfen
Die Emanzipation vom Verpackungsmüll findet in Bonn auf gerade mal 90 Quadratmetern Verkaufsfläche statt. Doch auch in anderen Städten in Deutschland ist Bewegung in die Regale gekommen. Im Februar hat das Geschäft „Unverpackt“ in Kiel eröffnet. In
Berlin bietet bereits seit vier Jahren ein Bioladen unverpackte Produkte an. Zwei junge Frauen wollen demnächst ein weiteres Geschäft in der Hauptstadt eröffnen. Mittels Schwarmfinanzierung haben sie in kürzester Zeit das nötige Startkapital eingesammelt –
mehr als 100.000 Euro sind zusammengekommen.
Unverhüllte Waren bieten die bestehenden Läden vor allem im sogenannten Trockensortiment an: Getreideflocken, Nudeln, Bohnen, Nüsse. Die Händler füllen sie aus großen Säcken in Sammelbehälter. Die transparenten Spender bestehen aus langlebigem
Kunststoff. „Bei richtiger Pflege halten die ein Leben lang“, sagt Tim Deinet. Reinigungsmittel und Flüssigseife können die Kunden aus Kanistern abfüllen. Essig und Öl kommen aus Metall- oder Glasgefäßen. Ein Konsumdreiklang aus Abfüllen, Abpumpen und Abzapfen.
Die Kunden bringen Mehrwegbehälter mit oder können sie zum Teil vor Ort kaufen.
Einkaufen als Sinnenerlebnis: Wer Haferflocken aus dem Großspender rieseln lässt, hat den Geruch von Getreide in der Nase. Es staubt. Der Kunde spürt das zunehmende Gewicht in der Schale. Nach dem ersten Besuch fragt die Freikost-Kassiererin: „Wie war das Abfüllen?“ Auch so geht Event-Shopping.
Markenzeichen „Bulk Bins“
Durch den Verzicht auf die üblichen Klein- und Kleinsthüllen ersparen sich Händler und Kunden erstaunliche Mengen an Müll. Die Recycling-Initiative WRAP aus Großbritannien hat den Effekt in einer Studie im Jahr 2007 hochgerechnet. Beispiel Reis: Beim Vergleich zwischen einem Ein-Kilo-Beutel im Regal und einem 25-Kilo-Sack zum Umfüllen fallen bei einer Million verkauften Beuteln rund 16.000 Kilogramm weniger Verpackung an. 20.000 Kilo weniger Verpackung sind es bei Getreide, 38.000 Kilo bei Waschmittel aus dem Karton. Müll, der vermeidbar ist – wenn Händler und Kunden mitmachen.
Entstanden ist der Wunsch nach Produkten ohne Plastik ausgerechnet im Herzen des modernen Konsums: in den USA. Wegen der wachsenden Kunststoffmüllberge und des teils fehlenden Recycling-Systems gründeten in den 70er Jahren Umweltbewusste die ersten Geschäfte mit verpackungslosem Sortiment. Markenzeichen und Symbol der Verpackungsfrei-Bewegung sind die Sammelbehälter: „Bulk Bins“. Die verbreiteten sich auch in Kanada und Australien. Bei einem Praktikum im australischen Melbourne lernte Hilke Deinet das Prinzip kennen.
Für den Verkauf von Lebensmitteln ohne Verpackung gibt es kaum rechtliche Hürden – doch für die Händler steigen die Risiken. Während normalerweise der Hersteller nachweisen muss, dass das Produkt bis zum Erreichen des Haltbarkeitsdatums einwandfrei bleibt, steht nun der Ladenbetreiber in der Pflicht. „Wenn ein Kunde etwas reklamiert, muss der
Händler belegen, dass er die lose Ware richtig gelagert hat“, sagt Sieglinde Stähle, wissenschaftliche Leiterin beim Bund für Lebensmittelrecht und Lebensmittelkunde
(BLL). „Die Verpackung schützt die Authentizität eines Produkts.“
Größte Herausforderung bleiben die Kunden
Dazu kommen Vorteile beim Transport: Verpackungen schützen empfindliche Lebensmittel vor Schäden. Aber sie speisen auch die Müllberge. Auf jeden Bundesbürger kommen pro Jahr rund 90 Kilogramm an Verkaufsverpackungen. Die werden meist direkt nach dem Einkauf entsorgt und müssen aufwendig recycelt und verwertet werden. Für die Kunden bedeutet eine Verpackung zudem fast immer höhere Kosten. Bei Freikost Deinet in Bonn sparen die Kunden je nach Produkt pro Kilogramm bis zu einen Euro, sagt Hilke Deinet.
Doch es gibt Grenzen der Verpackungsfreiheit. Sie hört da auf, wo die Lebensmittelhygiene anfängt. Frisches Fleisch gibt es bei Freikost Deinet als fertige Portionen in Folie eingeschweißt. Käse und Wurst wickeln die Verkäufer für die Kunden in Pergaminpapier
ein. Wenn der Kunde eigene Behälter für Wurst und Käse mitbringt, wird es etwas komplizierter. Die Boxen dürfen nicht hinter die Theke gelangen, weil Keime an ihnen haften könnten. Der Verkäufer legt die Ware mit einer Zange in eine abspülbare Schale, aus
der sie sich der Kunde herausnimmt.
Größte Herausforderung für die Ladenbetreiber aber bleiben die Kunden, die den puristischen Konsum nicht gewohnt sind und nach abgepackten Produkten – etwa Rosmarin-Flüssigseife – fragen. „Im kleinen Paket haben wir die nicht mehr, aber im Kanister
zum Abfüllen“, sagt Hilke Deinet dann. Aus der Lebensmittelhändlerin ist längst eine Konsumpädagogin geworden. Wer nur benötigte Mengen einkauft, lernt, sich von den Verpackungsmaßen der Lebensmittelindustrie unabhängig zu machen.
Auch wenn die Suche nach Wegen aus dem Verpackungswahnsinn in Deutschland noch am Anfang steht, gibt es bereits Ladenbesitzer, die das Prinzip via Franchise in der ganzen Republik verbreiten wollen. Wenn tatsächlich bald die ersten Unverpackt-Ketten entstehen, dann dürften sich auch die großen Einzelhändler für das Thema interessieren. In Bonn liegt der nächste große Supermarkt nur eine Minute Fußweg von Freikost-Deinet entfernt. Gut
möglich, dass ein altgedienter Einzelhandelsmanager mal bei Hilke Deinet vorbeischaut, um sich zu informieren, wie er funktioniert, der Verkauf von unverpackter Ware. Hoffentlich hat er dann eine Mehrwegbox dabei.
(Die Ausgabe von natur gibt es bis zum 16. Oktober 2014 im Bahnhofs- und Flughafen-Zeitschriftenhandel sowie auf dem Bestellportal im Internet oder bei der Online-Einzelheftbestellung.)
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