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Latinxs in den USA: Die Unsichtbaren

Bild: Imago Images / ZUMA Press


Luis Alfonzo Juarez, Maria Flores, Jordan Anchondo. Diese Namen stehen auf hölzernen Kreuzen, die Trauernde am 3. August 2020 durch das texanische El Paso tragen. Es sind die Namen der 23 Menschen, die hier genau vor einem Jahr in einer Walmart-Filiale von einem rechtsextremistischen Attentäter erschossen wurden. Fast alle Opfer hatten lateinamerikanische Wurzeln. In einem vor der Tat veröffentlichten Manifest warnte der Attentäter vor einer „Invasion der Hispanics", die es zu stoppen gelte. Zwei Polizist*innen gaben nach seiner Verhaftung an, er hätte ihnen gesagt, dass er „so viele Mexikaner wie möglich ermorden" wolle.

Präsident Donald Trump verurteilte den Anschlag öffentlich als rassistisch. Doch als er nach der Tat El Paso besuchte, begegneten ihm zahlreiche Demonstrant*innen mit Schildern, auf denen „Not welcome here" stand. Ihre Argumentation: Wie könne ein Präsident, dessen gesamte Rhetorik auf Diskriminierung von Minderheiten fuße, sich glaubhaft von Rassismus distanzieren? Während seines Wahlkampfes beschimpfte Trump Mexikaner*innen als „Vergewaltiger, Drogendealer und Mörder", die Welle von Einwander*innen aus Lateinamerika bezeichnete er lange vor dem Attentäter von El Paso als „Invasion". Eines seiner Wahlversprechen war der Bau einer Mauer zwischen den USA und Mexiko. Tatsächlich wird die Grenze zu Mexiko schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts seitens der USA immer mehr zur Festung ausgebaut. Allein zwischen 1994 und 2017 starben laut der Zoll- und Grenzschutzbehörde der USA 7216 Migrant*innen an der Grenze, die meisten fliehen vor Kartellkriegen und Gewalt, fast alle sind Latinxs. Das Wort ist eine genderneutrale Bezeichnung für die Bevölkerungsgruppe, die mal „Hispanics" und mal „Latinos/Latinas" genannt wird: Der Begriff umfasst Menschen, die entweder aus Lateinamerika in die USA eingewandert sind oder als US-Bürger*innen geboren wurden, aber latein-amerikanische Wurzeln haben. Mit mehr als 60 Millionen Menschen stellen sie über 18 Prozent der US-Bevölkerung. Lange vor der Gründung der USA haben sie Nordamerika bewohnt. Dennoch werden und wurden sie aufgrund ihrer Erscheinung, ihrer Sprachen und ihrer Kultur immer wieder ausgegrenzt.

Latinxs in den USA: Die „Guten" und die „Bösen"

Latinxs 2019 starben sechs lateinamerikanische Kinder, die ohne erwachsene Begleitung versuchten, die US-amerikanische Grenze zu übertreten, in Lagern, die Gefängnissen gleichen. Aufgrund von Trumps Null-Toleranz-Politik gegen Einwander*innen werden an der Grenze Kinder von ihren Eltern getrennt und für Tage, manchmal Wochen in den überfüllten Zellen festgehalten. Als 2019 der Super Bowl stattfand, das größte kommerzielle Sportereignis in den USA, traten mit Shakira und Jennifer Lopez eine kolumbianische und eine puerto-ricanische Künstlerin in der prestigeträchtigen Halbzeitshow auf - und inszenierten dabei Kinder in Käfigen, um auf die unmenschlichen Bedingungen an der US-amerikanischen Grenze aufmerksam zu machen. Die Show ist ein gutes Beispiel für die widersprüchliche Wahrnehmung von Latinx-Menschen in den USA: Auf der einen Seite gibt es eine ganze Reihe von lateinamerikanischen Hollywoodschauspieler*innen und Popstars, die von der Nation verehrt werden, seien es Jennifer Lopez, Cardi B, Selena Gomez oder Benicio del Toro. Erfolgreichster Broadway-Star ist derzeit Lin Manuel-Miranda, der mit seinem Musical Hamilton, in dem er die Rollen der Gründer*innen der USA nur mit nicht-weißen Menschen besetzte, zahlreiche Preise bekam. Shootingstar der jungen amerikanischen Linken ist die puerto-ricanische Demokratin Alexandria Ocasio-Cortez, die jüngste Frau, die je in den Kongress gewählt wurde: Sie begeistert Millionen Menschen mit ihren Reden gegen Sexismus und Ungleichheit und landete 2019 gemeinsam mit Greta Thunberg auf dem Cover des Time Magazine.

Im Restaurant angeschrien

Auf der anderen Seite werden „gewöhnliche" Lateinamerikaner*innen entmenschlicht. Sie üben besonders häufig schlecht bezahlte Berufe aus und leiden besonders stark unter den wirtschaftlichen Auswirkungen der Coronakrise. Viele haben keine Krankenversicherung. Sprechen sie in der Öffentlichkeit Spanisch oder Kreol, werden sie regelmäßig beschimpft. 2019 ging ein Video viral, das einen solchen Angriff festhielt: In dem Clip sieht man, wie eine weiße Frau einen mexikanisch-amerikanischen Mann in seinem eigenen Restaurant anschreit, er solle gefälligst Englisch statt Spanisch reden. Als er sie darauf hinweist, dass er ein US-amerikanischer Staatsbürger sei, sagt die Frau: „Go back to your fucking country." Im vergangenen Dezember überfuhr eine Frau ein 14-jähriges Mädchen, einfach nur, weil sie sie für eine Mexikanerin hielt.

Latinxs in den USA: Black and Brown lives matter

Nach Afroamerikaner*innen haben Latinxs in den USA die höchste Wahrscheinlichkeit, von Polizist*innen erschossen zu werden: Laut einer Datenbank der Los Angeles Times wurden allein im County Los Angeles in den letzten 20 Jahren 465 Latinxs von der Polizei getötet. In den gesamten USA waren es laut der Datenbank der Washington Post von 2015 bis heute etwa 910. Dennoch spricht niemand über diese Taten.

Auch auf enorm: Afroamerikaner*innen wandern nach Ghana aus

Am 6. Juni 2020 wurde der 24-jährige Latino Eric Salgado von einem weißen Polizisten in Oakland, Kalifornien, erschossen. Vier Tage zuvor starb der 22-jährige Latino Sean Monterrosa im kalifornischen Vallejo, als er im Verdacht stand, eine Apotheke auszurauben. Monterrosa kniete sich bei der Konfrontation mit der Polizei hin und hob die Hände, er hatte einen Hammer in der Tasche, den die Polizist*innen angeblich für eine Schusswaffe hielten. Daraufhin eröffneten sie das Feuer. In Vallejo wurden zum Gedenken an Monterrosa Kerzen aufgestellt. Ein Foto des Gedenkortes zeigt ein Schild, auf dem steht: „Black and Brown Lives Matter".

Es ist eine Allianz, die eigentlich offensichtlich erscheint. „Latinos und Schwarze Communitys erleben einen gemeinsamen Schmerz, eine gemeinsame Unterdrückung", sagte zum Beispiel George Calvis, ein Latinx-Bürgerrechtler, dem Guardian. Es sei wichtig, gemeinsam zu kämpfen, ohne dabei „in die Falle der Unterdrückungs-Olympiade zu tappen". Damit meint er, dass Minderheiten, seien es Schwarze, Latinxs, Asian-Americans oder indigene Menschen, ihr Leid nicht vergleichen und gegeneinander aufwiegen sollten.

Als die Politikerin Alexandria Ocasio-Cortez in einem Interview gefragt wurde, was denn die Latinx-Bevölkerung gegen Rassismus tun solle, sagte sie, dass Latinxs den Rassismus und Colorism innerhalb ihrer eigenen Gemeinde reflektieren müssten, aber dass man auch nicht vergessen dürfe, dass Latinxs auch Schwarz seien. Afro-Latinxs dürften nicht von der Debatte ausgeschlossen werden. Ebenfalls verwies sie auf die diversen Wurzeln lateinamerikanischer Menschen, die oft gleichermaßen auf indigene, europäische und Schwarze Vorfahren zurückgehen. Der Großteil der Schwarzen Menschen, die von Europäer*innen im Zuge der Kolonialisierung versklavt wurden, wurde in die Karibik und nach Lateinamerika verschleppt, nicht in die USA.

Den Rassismus in den eigenen Reihen bekämpfen

Alexandria Ocasio-Cortez wurde via Twitter von vielen Menschen kritisiert. Latinxs seien nicht Schwarz, sondern europäisch, hieß es. Auch Rapperin Cardi B, die vielleicht derzeit berühmteste Afro-Latina in den USA, zeigte sich verärgert, dass ihr ihre Schwarze Identität manchmal aberkannt werde. Auch, wenn sie nicht Afroamerikanerin sei, sei sie trotzdem Schwarz und dabei gleichzeitig Latina, erklärte sie der Künstlerin Zendaya in einem Interview. Es ist ein häufiges Missverständnis in einer Gesellschaft, in der Latinxs als eine homogene Gruppe wahrgenommen werden, und nicht als die extrem diverse Ethnie, die sie sind.

In den USA wird die Bezeichnung „Latin" oder „Hispanic" von der für die Volkszählung verantwortlichen Behörde des Handelsministeriums zugleich für Menschen mit lateinamerikanischem Hintergrund und für Menschen mit spanischen Wurzeln verwendet. Ein abstruses Konzept, das zeigt, wie ignorant in den USA mit der Gruppe umgegangen wird. In seinem Buch Latinx: The New Force in American Politics and Culture beschreibt der Journalist Ed Morales dieses Missverständnis als „Racial Binary", in dem die USA nur zwischen Schwarz (im Sinne von afroamerikanisch) und weiß unterschieden und nicht genügend differenzierten. Daraus resultierten unter anderem bei Latinxs oder Asian-Americans Irritation über ihre Identität. Diese Irritation wiederum führe dazu, das man oft nicht genug über die Unterdrückung dieser Gruppen rede. Zudem könne man nicht leugnen, dass auch in Latinx-Gemeinden ein starker Rassismus gegen Schwarze und indigene Menschen zu finden sei, argumentiert Morales. Der Colourism führe dazu, dass hellhäutige Latinxs sowohl innerhalb von Lateinamerika als auch in den USA weniger Diskriminierung erfahren würden als solche mit offensichtlich indigenen oder Schwarzen Zügen. „Für Latinxs ist der Phänotyp Schicksal", schreibt Morales, „da die phänotypische Erscheinung von Latinxs so stark variiert, dass er ihren sozialen Status stark beeinflussen kann".

Morales' Appell ist eindeutig: Ein gemeinsames und solidarisches Engagement sowie eine tiefe Reflexion der eigenen Diversität von innen und außen sei dringend notwendig, um die Diskriminierung der Latinx-Bevölkerung zu beenden und um lateinamerikanische Migrant*innen, die in die USA kommen, vor Menschenrechtsverletzungen zu schützen. Ein Aufschrei ist lange überfällig.

Dieser Text ist Teil der aktuellen enorm-Ausgabe „Vereinigt die Vielfalt", in der wir uns ausführlich mit den USA beschäftigen.
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