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Der Zeugnis-Code

Gut oder schlecht? Wortzeugnisse sind Eltern oft ein Rätsel

Wie staunten wir Redakteure - alte Hasen im Bildungsgeschäft -, als wir die Zwischenzeugnisse unserer Grundschulkinder verglichen: Keines ähnelte in Form und Aussage dem anderen. Wir baten daraufhin Eltern aus der ganzen Republik, uns Zeugnisse ihrer Kinder zu schicken. Auch hier: bunte Vielfalt. Auf knappe Notenzeugnisse folgten 20seitige Leistungsberichte. Einige Lehrer schreiben „Lernbriefe" an ihre Schüler, andere setzen Kreuzchen in eine Skala von „Das kannst du schon prima" bis „Das musst du noch üben". Die Zeugnisordnungen der Länder schreiben nur grob vor, wie ein Leistungsnachweis aussehen muss. Grundschulen greifen deshalb nach Gusto auf drei unterschiedliche Zeugnistypen zurück (vgl. rechts): Notenzeugnisse, Kompetenzzeugnisse und Wortzeugnisse. Letztere sind indivisuell, aber oft schwer verständlich. Sie strotzen vor Floskeln, die sich keiner Note zuordnen lassen. Ist ein „aufgewecktes" Kind schon ein Zappelphilipp? Wo steht ein Zweitklässler, der den „Zahlenraum bis 10 erschließt"? Auf der folgenden Doppelseite finden ratlose Eltern Aufklärung. Übersetzungshilfe für Wortzeugnisse „. . . entspricht den Erwartungen in vollem Umfang." Standardtexte? Fehlanzeige! Einzelne Formulierungen lassen sich nicht in Noten übersetzen. Auch wenn es so aussieht: Grundschulzeugnisse enthalten keine Standardformulierungen, die eine Schulbehörde abgesegnet hätte. Lehrer dürfen und sollen individuell formulieren. „Deshalb ist jedes Verbalzeugnis erklärungsbedürftig", sagt Johannes Müller, Ex-Landesvorsitzender der rheinland-pfälzischen Lehrergewerkschaft VBE. Viele Zeugnisse wirken formelhaft, weil Lehrer schulinterne Standards für Inhalt, Stil und Form einhalten müssen. Bei der Suche nach Worten lassen sie sich außerdem gern helfen: Programme wie „Zeugniscreator GS" und Bücher wie „Formulierungen für Schulberichte & Zeugnisse" liefern bewährte Textbausteine, die das Konfliktrisiko mit Eltern minimieren sollen. Formulierungen sind für Lehrer oft eine Gratwanderung: Weil kein Kind abgestraft oder herabgewürdigt werden darf, umschreiben sie Lernschwächen und Verhaltensauffälligkeiten oft besonders vorsichtig. Eltern müssen in diesem Fall zwischen den Zeilen lesen. Wer sich keinen Reim auf eine Formulierung machen kann, sollte mit dem Lehrer sprechen. „. . . war sehr verträglich und ging Streitigkeiten aus dem Weg." Interpretieren? Bitte nicht! Eltern sollten Zeugnisbemerkungen wörtlich nehmen. Grundschulzeugnisse sind schließlich keine Arbeitszeugnisse, die immer positiv formuliert werden müssen. Im Gegenteil: Lehrer bemühen sich, die Leistungen des Kindes möglichst genau mit Worten darzustellen. Es liegt in ihrem Interesse, auf verbesserungswürdige Aspekte hinzuweisen - zu welchem Zweck sollten sie sie verschleiern? Tabu sind lediglich verletztende und abwertende Bemerkungen. Eltern müssen deshalb nicht befürchten, dass eine positive Aussage trotzdem auf Defizite schließen lässt. Mit der Bemerkung „Er war sehr kommunikativ" bescheinigt ein Chef seinem Mitarbeiter Schwätzertum und Tratscherei. Im Schulzeugnis bedeutet der gleiche Satz dagegen ein großes Lob in puncto Sozialverhalten. Auch zurückhaltende Einschätzungen verbergen im Schulzeugnis nichts Schlimmes: Ein Grundschüler, der „den Erwartungen entspricht", liegt einfach im Mittelfeld seiner Altersgruppe. Im Arbeitszeugnis beschönigt diese Bemerkung ein „Mangelhaft". Apropos „schwätzen": Sehr redselige Kinder erhalten auch eindeutige Rückmeldung. Wie diese Drittklässlerin aus Bayern: „Emma beachtete auch einfache Gesprächsregeln nicht." „. . . geht geschickt mit Bällen um." Beispiele? Sind wichtig! Mal ehrlich: Für Eltern ist im Zeugnis nicht so wichtig, wie geschickt ihr Kind mit Bällen umgehen oder einen 6/8-Takt klatschen kann. Bedürfen solche Fähigkeiten einer Extra-Erwähnung? Dahinter steckt mehr: Lehrer veranschaulichen die Leistungen und Kompetenzen des Kindes gern anhand bestimmter Fähigkeiten. Die Bemerkung „Kann geschickt mit Bällen umgehen" weist nicht auf eine punktuelle Stärke hin, sondern auf die allgemeine sportliche Kompetenz. Leider gilt das auch im Negativen: Selma, Zweitklässlerin aus Baden-Württemberg, hat „Probleme, den Anweisungen des Lehrers zu folgen". Ihr Lehrer nennt damit ein wichtiges Beispiel für ihr insgesamt problematisches Arbeitsverhalten. Übrigens: Ein Zeugnis thematisiert nie alle Aspekte des Lernverhaltens. Lehrer schreiben vor allem über die Verhaltensweisen, die sie positiv bestärken oder ändern wollen. Was ohnehin rundläuft, bedarf keiner Erwähnung.

„. . . schreibt fast fehlerfrei." Schlüsselwörter? Haben es in sich! Im Zeugnistext zählt jedes Wort. Eltern, die jede Formulierung unter die Lupe nehmen, wissen, ob ihr Kind sich im oberen, mittleren oder unteren Leistungsbereich bewegt. Zu einer sehr guten Beurteilung gehören positive Adjektive und Formulierungen, die auf eine überdurchschnittliche oder vollständig erbrachte Leistung hinweisen: „Er konnte alle gelernten Arbeitstechniken selbstständig und sicher anwenden." Oder: „Er führt die erforderlichen Rechenaufgaben im Zahlenraum bis 100 sicher und zügig durch." Einschränkende Adjektive oder Formulierungen verweisen darauf, dass eine Leistung durchschnittlich erbracht wurde: im Großen und Ganzen zwar gut, aber unvollständig. Diese Schüler aus Rheinland-Pfalz liegen im mittleren Leistungsbereich: „Jan benötigte noch zusätzliche Hilfen, um erlernte Arbeitstechniken sicher anzuwenden." Oder: „Tim löst geübte Aufgaben im Zahlenraum bis 100 mit Hilfsmitteln." Hellhörig sollten Eltern werden, wenn Lehrer Leistungen durchweg negativ und ohne Hinweis auf positive Tendenzen beschreiben: Bemerkungen wie „Alexandra gelang es noch nicht, erlernte Arbeitstechniken sicher anzuwenden" oder „Sie ist selten in der Lage, einfache Rechnungen im Zahlenraum bis 100 ohne Hilfe zu lösen", zeigen, dass das Mädchen sich im unteren Leistungsbereich bewegt und dringend Handlungsbedarf besteht.

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