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Verteilungskampf am Gartenzaun

Fotos: F. Anthea Schaap

Für Berliner Laubenpieper sieht es düster aus: Viele sollen ab nächstem Jahr Platz machen für die wachsende Stadt. Derweil stehen Immobilienentwickler schon in den Startlöchern: Sie schielen seit Jahren auf die wertvollen Grünflächen

Wenn Dorit Litke ihren Rasen vom Laub befreit, produziert sie ein Geräusch, wie es die meisten Städterinnen fast gar nicht mehr kennen. Statt des donnernden Brummens eines Laubbläsers, wie ihn BSR-Mitarbeiterinnen oft mit sich führen, hört man an diesem Septembervormittag im Büchnerweg in Adlershof nur „schrrrab, schrrrab, schrrrab". Langsam und gleichmäßig fährt Dorit Litke mit dem Rechen über die Wiese. Die Luft ist herbstlich kühl, die Sonne aber noch so stark wie im Hochsommer. T-Shirt-Wetter.

„Einfach aufmachen!", ruft die 57-Jährige mit zarter Stimme in Richtung Gartentörchen und stellt den Rechen ab. Ein schmaler, ummauerter Weg aus festgetretener Erde schlängelt sich durch hüfthohe Wildblumen, vorbei an Obstbäumen und Gemüsefeldern und durch einen rosenbewachsenen Torbogen. Am Ende des Gartens steht ein rot-weißes Holzhäuschen. Weintrauben hängen von der Wand, über dem gedeckten Kaffeetisch tänzeln Insekten in der Mittagssonne. Sie mag einem fast ein bisschen unecht erscheinen, diese Büllerbü-Idylle. Und doch sieht Litke niedergeschlagen aus, wenn sie vom Kaffeetisch aus auf ihre Beete schaut. „Ich überlege schon, was ich mitnehme und was hier lasse", sagt sie. „Wo sich das Gießen noch lohnt".

Litkes Überlegungen sind berechtigt: Die Tage ihres Schrebergartens sind gezählt. Die Tage der gesamten Kolonie „Ehrliche Arbeit" sind es. Denn sie gehört zu den 153 Berliner Kleingartenkolonien, die demnächst bebaut werden dürfen.

So steht es im neuesten Entwurf des Kleingartenentwicklungsplans Berlin 2030, den der Senat Anfang dieses Jahres vorgelegt hat. Zunächst entstehen auf den Flächen nur Infrastrukturprojekte wie neue Bahnstrecken, Brücken oder Radwege, Kitas, Schulen und neue Sporthallen. Mittelfristig ist aber auch Wohnungsbau denkbar. 5.800 der insgesamt 71.000 Kleingärten könnten in den nächsten zehn Jahren der wachsenden Stadt weichen. Nur 17 der 153 bedrohten Kolonien sind in städtischem Besitz. Zwei von ihnen sollen teilweise geräumt werden, alle anderen komplett. Auf der Streichliste steht auch die „Ehrliche Arbeit" in Adlershof, in der Dorit Litke ihre Parzelle hat: Hier soll eine Turnhalle für die benachbarte Oberschule entstehen.

Entwurf des Kleingartenentwicklungsplans des Landes Berlin Entwurferstellung und Datenbearbeitung: Joseph Gerstenberg / Wolfram Siewer (C+S) / Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz / Freiraumplanung und Stadtgrün III C

Weiteren etwa 6.400 Kleingärten geht es im Anschluss an den Kragen: ab 2030 dürfen auch sie planiert werden. Bis 2020 läuft ein Prüfprozess, der feststellen soll, welche der landeseigenen Anlagen für Wohnungen Platz machen müssen. Vor 2030 aber werde kein landeseigener Kleingarten für den Wohnungsbau angerührt, sagt Jan Thomsen von der Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz. In Berlin gebe es „etliche Flächen", die derzeit zu Wohnungsbaugebieten entwickelt werden. Das reiche, um den Bedarf an Wohnraum bis 2030 zu decken, so Thomsen.

Der Kleingartenentwicklungsplan hat einen neuen Verteilungskampf um das Berliner Stadtgrün heraufbeschworen. „Enteignet die Kleingärtner!", fordern Menschen in Wohnungsnot, „Alle Kleingärten erhalten!" die Laubenpieper selbst. Die Debatte kreist um die Frage, wem man in einer aus allen Nähten platzenden Stadt etwas wegnehmen darf - und bis zu welchem Punkt das noch gerecht ist. Für viele Gegner der Gartenzwerge sind die Fronten klar: spießige Laubenpieper, die wertvolle Stadtfläche besetzt halten, auf der einen Seite - weltoffene Großstädter und junge Familien, die verzweifelt nach einem Kitaplatz oder einer bezahlbaren Wohnung suchen, auf der anderen. Derweil fürchten alteingesessene Kleingärtner, zugunsten reicher Großstadt-Juppies ausradiert zu werden und sehen sich als Opfer der Gentrifizierung.

In nicht weniger als 177 Seiten beschreibt der Plan des Berliner Senats, wie künftig mit den Kleingärten der Hauptstadt verfahren werden soll. Dabei steigt der Entwurf mit einer Lobeshymne an die Schrebergärten ein: wie wertvoll und schützenswert die Flächen doch seien, wie wichtig für umliegende Wohnanlagen und welch herausragenden Beitrag sie für ein stabiles Stadtklima leisteten.

Bereits in den 1980er Jahren brachten meteorologische Studien die Erkenntnis, dass Grünanlagen im Stadtzentrum wie natürliche Klimaanlagen wirken. Der Kleingärtner als Klimaschützer - das trifft den Zeitgeist. Sebastian Ebert vom Umweltbundesamt sagt: „Kleingärten und vor allem größere Kolonien wirken insbesondere in Nächten als Kaltluftentstehungsgebiete und tragen in Verbindung mit Frischluftschneisen dazu bei, das Entstehen von städtischen Hitzeinseln abzumildern oder gar zu vermeiden." Auch verhinderten Kleingärten Überschwemmungen, weil sie das Regenwasser gut aufnehmen, so der Klima-Experte weiter. Grundsätzlich würde all das auch auf Parks und Grünanlagen zutreffen - allerdings müssten die durch die öffentliche Hand unterhalten werden. „Man könnte sagen, dass Kleingärtner zwar gewisse Privilegien gegenüber der Allgemeinheit haben, weil sie Flächen nutzen, die teils sehr begehrt für andere Nutzungen sind, aber dafür auch auf eigene Kosten einen Beitrag zur Entlastung bei Hitze oder Starkregen leisten." Auf der Planungshinweiskarte Stadtklima, herausgegeben von der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt, sind die Kleingärten in Berlin sogar als höchst schutzwürdige Grünanlagen verzeichnet.

Baubeginn 2022

Dorit Litke schenkt gerade Filterkaffee ein, als Manuela Münzelfeld durchs Törchen kommt. Die 57-Jährige ist ebenfalls Pächterin in der Kolonie „Ehrliche Arbeit" und eine alte Schulfreundin von Litke. Beide wohnen sie nur einen Steinwurf von der Kolonie entfernt. Dass über die „Ehrliche Arbeit" schon in zwei Jahren die Bagger rollen sollen, haben sie erst durch Zitty erfahren, durch unsere Anfrage beim Bezirksstadtrat von Treptow-Köpenick. Die E-Mail liegt ausgedruckt auf dem Kaffeetisch. „Baubeginn 2022", steht dort. „Das hat uns so keiner gesagt", sagt Münzelfeld.

Der Vereinsvorsitzende scheint ähnlich unwissend zu sein wie die Pächter: Auf Anfrage der Zitty Anfang September teilte er mit, sich erst dann öffentlich zu dem Thema äußern zu wollen, wenn „endlich konkrete Fakten existieren". Man solle sich mit den Fragen an den Senat beziehungsweise an „Informationsquellen wenden, die im Moment vielleicht mehr wissen als wir Kleingärtner".

Nun liegen diese konkreten Fakten auf dem Tisch. Wir leiten die Antwort von Rainer Hölmer (SPD), Bezirksstadtrat von Treptow-Köpenick, an den Vereinsvorsitzenden weiter - doch der meldet sich nicht zurück, eine Telefonnummer will man uns beim Kleingartenverein nicht geben.

Manuela Münzelfeld glaubt nicht an die Pläne: „Ich denke, dass wir noch länger bleiben. Das Rumgeeiere geht seit fünf Jahren", sagt sie und erinnert sich an mehrere Bezirksverordnetenversammlungen, zu denen auch die Kleingärtner geladen waren. Immer wieder sei die Rede von Räumung gewesen. „Aber keiner hat Klartext geredet". Ein paar Mitkleingärtner habe der Bezirk damit schon vertrieben, erzählt Münzelfeld.

Baustadtrat Hölmer dagegen betont Zitty gegenüber mehrmals, dass die Pächter rechtzeitig auf den Wegfall der Parzellen vorbereitet worden seien, „aktenkundig mindestens seit April 2008". Jeder Pächter werde mit einer ebenso großen Ersatzfläche entschädigt, versichert Hölmer: „Eine mögliche Kleingarten-Ersatzfläche wurde bereits im Bereich der Köpenicker Straße in Altglienicke beantragt". Weitere Ersatz-Parzellen würden ab 2021 in der Nähe der Köpenicker Landstraße entstehen, so Hölmer weiter. Beide Ersatz-Standorte befinden sich damit in einem Radius von sechs Kilometern um die „Ehrliche Arbeit". Für Litke und Münzelfeld: viel zu weit weg.

Außerdem sichert der Plan jedem Pächter eine Entschädigung von 7.000 Euro zu. Das sind mehr als die 12.000 DM, die Münzelfeld vor 22 Jahren für ihre Parzelle bezahlt hat. Die Berlinerin aber glaubt nicht, dass sie dieses Geld je zu Gesicht bekommen wird. Auch bezweifelt sie, dass die Geschichte mit der Schule überhaupt stimmt: „Bis 2030 wird das hier alles so bleiben, und dann knallen die Wohnungen hin", sagt Münzelfeld und: „Ich habe das Gefühl, dass oft nicht richtig geprüft wird, ob eine Maßnahme wirklich notwendig ist" - mit diesem Gefühl ist sie nicht alleine: Auch Norbert Franke, Vorsitzender des Landesverbands der Gartenfreunde Berlin, wirft den Autoren des Kleingartenentwicklungsplans vor, nicht immer sorgfältig geprüft zu haben, ob der Abriss ganzer Anlagen wirklich erforderlich ist. Er selbst habe als Vorsitzender einer Kolonie in Marzahn verhindert, dass diese wegen einer neuen Kita komplett geräumt werde. Daraufhin habe es eine zweite Prüfung gegeben, und tatsächlich sollen jetzt nur einzelne Parzellen umgewidmet werden. „Natürlich werden wir uns nicht dagegen wehren, wenn eine Kita, eine Schule oder ein Pflegeheim gebaut werden soll", sagt der Vorsitzende des Landesverbands. „Was mir Sorge bereitet, ist die Frage, ob wir nicht manchmal den einfachen Weg gehen." Kleingartenflächen stünden auf bestem Bauland und seien meist bereits gut erschlossen. „Hier ist es am einfachsten, zuzugreifen."

Die Linke aus Treptow-Köpenick hatte dem Bezirksamt schon vor drei Jahren mehrere Vorschläge unterbreitet, wie die Gärten erhalten bleiben könnten: Zum Beispiel, indem die Oberschule auf das weitaus größere Gelände des Technologieparks Adlershof umzieht, wo sie nach Belieben erweitert werden kann. Der Bezirk lehnte den Vorschlag ab.

Auch wenn die „Ehrliche Arbeit" überhaupt nicht für den Wohnungsbau vorgesehen ist: Litke und Münzelfeld reagieren allergisch auf das Thema. Und das, obwohl sie den Berliner Mietenwahnsinn durchaus mitbekommen: Litke berichtet, dass sich ihr Sohn mit Frau und drei Kindern eine Zwei-Zimmer-Wohnung teile. Und Parzellen-Nachbarin Münzelfeld hat Sorge, ob sie sich mit ihrer Rente in ein paar Jahren überhaupt noch eine gute Wohnung leisten kann, wenn die Mietpreise weiter steigen. Dass aber Kleingärten das Wohnungs-Dilemma jetzt auffangen sollen, sehen die beiden nicht ein.

Mit einem ähnlichen Dilemma ist zum Beispiel die Kolonie Bornholm 2 in Prenzlauer Berg konfrontiert. Ein Teil der Kolonie nämlich steht auf potenziellem Bauland - und die benachbarte Grundschule hat vergangenes Jahr Bedarf für eine Turnhalle angemeldet.

„Da wächst was", lautet der Slogan, unter dem die Kleingärtner antraten, um die Bedeutung ihrer Grünflächen für die Allgemeinheit in den Vordergrund zu rücken - und für den Erhalt ihrer Lauben zu protestieren. Sie veranstalteten einen „Tag des offenen Gartens", richteten eine Internetseite ein und hängten bunte Plakate mit lustigen Wortspielen auf: „Mehr Fluglärm durch Bienen" steht auf einem. Seit Anfang Juli geben die Kleingärtner auch ihr eigenes Magazin heraus: die „Parzelle".

Für Aufmerksamkeit haben sie mit all dem gesorgt - geholfen aber hat es offenbar nicht: Acht Parzellen müssen trotzdem aufgeben werden, die Schulturnhalle wird gebaut. Die Kolonisten hatten direkt eine neue, recht ungewöhnliche Idee, wie sich die Gärten doch noch retten ließen: Die Lauben könnten doch auf das Dach der Turnhalle, wo ein Gemeinschaftsgarten entstehen würde. Dem Bezirk präsentierten die Kleingärtner eine Computersimulation, sie arbeiteten sogar einen Finanzierungsplan aus.

Seit September ist klar: Die Dachgärten wird es nicht geben: zu teuer, zu aufwendig, zu langwierig, so lässt sich die Begründung des zuständigen Bezirksstadtrats Torsten Kühne (CDU) zusammenfassen. Torsten Löhn, Zweiter Vorsitzender der Kolonie Bornholm II und hauptberuflich Filmregisseur, ist enttäuscht: „Unsere Kooperationsbereitschaft sollte man nutzen", sagt er. Das „Totschlagargument", die Gartendächer wären zu teuer geworden, will er nicht gelten lassen - und verweist auf ein Förderprogramm, das das Projekt mit bis zu 200.000 Euro unterstützt hätte. Auch das hätte er dem Bezirksstadtrat zukommen lassen - doch der ignorierte ihn. „Ich glaube, er hat es gar nicht gelesen", so Löhn.

"Kleingärten sollten erhalten werden, wenn sie öffentlich zugänglich sind"

Hartmut Balder, Professor der Beuth Hochschule

So sind es dann doch oft die Laubenpieper, die im Kampf gegen Wohnungsbau- oder Infrastrukturprojekte das Feld räumen müssen. Der Gartenfreunde-Vorsitzende Franke sagt: „Die Stadt hat in großem Umfang riesige Flächen mit Einfamilienhäusern bebaut statt mit fünf- und achtstöckigen Häusern, die eine Alternative geboten hätten. Gucken Sie sich die Parkplätze der Discounter an - warum kann man die Unternehmen nicht zwingen, ein mehrgeschossiges Parkhaus zu errichten?" Genügend Platz stünde auch auf dem Tempelhofer Feld zur Verfügung, auf dem man zumindest die Ränder bebauen könne. So argumentiert auch die Berliner CDU: „Hier könnte man mit dem Einverständnis der Berliner und in enger Abstimmung mit den Nachbarn einvernehmlich moderne und bezahlbare Wohnquartiere projektorientiert errichten", sagt Oliver Cywinski, Politischer Referent im Landesverband. Es sei nicht nachvollziehbar, diese Potenziale nicht zu nutzen und stattdessen Kleingärten zu bebauen.

Doch die Bebauung wäre ein Tabubruch: In einem Volksentscheid stimmten 2014 rund 63 Prozent der Teilnehmenden gegen die Randbebauung der Fläche. Aber jetzt, fünf Jahre später, kocht die Debatte in Berlin wieder hoch. Etwa zwei Drittel der Befragten finden es inzwischen doch gut, den Rand des Flugplatzes mit Wohnungen zu bebauen, wie eine Umfrage des „Tagesspiegel" aus dem Juli 2019 zeigt. Mehrere SPD-Kreisvorsitzende schlugen daraufhin vor, die Berliner erneut abstimmen zu lassen. Auch die Jusos brachten das Thema Mitte September wieder auf den Tisch - bei Berlins Bausenatorin Katrin Lompscher (Linke) beißen sie damit allerdings auf Granit: „Es gibt ein Tempelhofgesetz, das eine Bebauung ausschließt, daran halten wir uns", so Lompschers Antwort.

Ein Argument, auf das sich die Kleingarten-Kämpfer gerne stützen, ist die ungebrochen hohe Nachfrage nach Parzellen. Beinahe 12.000 Interessenten stehen aktuell auf den Wartelisten für einen Schrebergarten in Berlin. Die Wartezeit beträgt drei Jahre und länger. Und: Die Interessenten werden bunter, meint Franke vom Landesverband der Gartenfreunde. Hier wohnten Menschen aus allen sozialen Schichten, Geringverdiener neben Ärzten und Richtern. Sogar zwei Bürgermeisterinnen habe er in seinem Verein. Die Masse werde nicht nur deutlich jünger, sondern auch internationaler. Stolz berichtet er von dem jüngsten Kleingartenfest in Reinickendorf, bei dem jede in der Kolonie vertretene Nation ihren eigenen Essensstand hatte. Ganze zehn Länder seien dort gewesen.

Tatsächlich hat das Kleingärtnern längst die Mitte der Gesellschaft erreicht: Urban-Gardening-Projekte, Wald- und Gemeinschaftsgärten finden immer mehr Anhänger. Hippe junge Großstädter flüchten aus der zubetonierten Innenstadt ins Grüne, wühlen in der Erde und ziehen Karotten. Sie sind Ausdruck einer Generation, die sich in einer zunehmend komplexen, digitalisierten Welt zurück auf die Natur besinnt. Und die das Image vom kleinbürgerlichen Schrebergärtner allmählich bröckeln lässt.

Kleingärten sind wieder „cool" - auch, weil sie für eine klimafreundliche Bewegung stehen. Sie wurden einst als Rückzugsort für Arbeiterfamilien gegründet, die mit dem eigenen Garten zu Selbstversorgern werden sollten. Diesen exklusiven Sinn haben sie bis heute nicht ganz verloren: Noch immer ist der Kleingärtner verpflichtet, auf einem Drittel seines Gartens Obst und Gemüse anzubauen - so steht es im mittlerweile 100 Jahre alten Bundeskleingartengesetz.

Die Bedeutung von urbanem Grün hat auch Hartmut Balder, Professor für Phytopathologie und Pflanzenschutz im urbanen Bereich an der Beuth Hochschule Berlin untersucht. Sein Fazit: Stadtgärten sollten erhalten, sogar weiterentwickelt werden. Allerdings unter der Prämisse, dass die Gartenanlagen „öffentlich zugänglich sind und sich in einem attraktiven, einladenden Zustand präsentieren". Am Ende profitiere von den Kleingärten nicht nur die Umwelt: Denn alleine der Ausblick von Gebäuden auf grüne Gartenparzellen steigere den Wert der anliegenden Immobilien, so Balder. Und dennoch: Es scheint die Tatsache nicht zu rechtfertigen, dass fast 30 Millionen Quadratmeter Stadtfläche von Kleingärten besetzt werden.

Ralf Ruhnau, Präsident der Baukammer Berlin, appelliert an den Senat, doch zumindest die Randstreifen der Kleingärten zu bebauen. „Auf Grundstücken, die dem Senat bereits gehören und die zudem an gut erschlossenen Straßen liegen, lässt sich hervorragend preiswerter Wohnraum schaffen", argumentiert der Bauingenieur auf Zitty-Anfrage - und macht eine Rechnung auf: Gäbe man 20 Prozent der Kleingärten frei, könnten dort grob geschätzt 200.000 Wohnungen entstehen. So viele, wie in Berlin aktuell fehlen.

Man hätte zumindest darüber nachdenken können, sagt der Präsident der Baukammer. Stattdessen habe er „auf breiter Linie Protest geerntet", als er den Parteien im April seinen Vorschlag vorlegte. Und Ruhnau meint auch zu wissen, warum: „Die Kleingärtner bilden ein erhebliches Wählerpotential, dass keine der Parteien vergraulen möchte". Allein die Wohnungsbaugesellschaften, private wie kommunale, fanden Ruhnaus Idee klasse.

Jetzt mit Infrastrukturprojekten anzufangen, hält der Ingenieur für das falsche Vorgehen. „Schulen muss man sicherlich auch bauen, aber wir brauchen jetzt den Wohnraum. Also haben wir gesagt, überlegt euch, ob der Wohnungsbau nicht Priorität hat." Weder wolle er die ganzen Kleingärten plattmachen noch wichtige Infrastrukturmaßnahmen verhindern. Seiner Meinung nach sei es allerdings sinnvoller, wenn auf einer Fläche fünf Wohnungen statt einer Parzelle für einen Kleingärtner stünden. Das könnten die Kleingärtner verschmerzen, sagt Ruhnau.

Vielleicht könnten sie das. Fraglich ist, ob sie es auch wollen. Alexandra Immerz will es nicht. Die Pächterin aus der Kolonie Heinersdorf in Pankow sorgt sich um die Zukunft ihrer Parzelle: „Das treibt mich schon um", sagt die 43-Jährige. Sie spricht leise und besonnen, ab und an kommt ihr schwäbischer Akzent durch. Wie sie so am Kopfende des langen, breiten Holztisches sitzt, im Lichtkegel der warmen Deckenleuchte, wirkt sie noch viel zierlicher als ohnehin schon. Ihr gegenüber hat Vereinschef Eric Thiel Platz genommen, in dicker Regenjacke, die Ellenbogen auf die Tischplatte gestützt. Es ist kalt an diesem Mittwochabend im September, draußen nieselt es, und langsam bricht die Dunkelheit herein. Außer Thiel und Immerz sind die Vorsitzenden Katrin Ziegert und Gabriele Zielisch gekommen. Vorstandstreff im Vereinshaus der KGA Heinersdorf, der Kommandozentrale für den Kampf um die bedrohten Schollen.

Noch ist das Ende der Kolonie nicht besiegelt, wie es in Adlershof der Fall ist. Die Bedrohung aber ist trotzdem da: Mehr als 500 Pächter bangen hier um ihre Parzellen, seit klar ist, dass ein Teil der Kolonie Heinersdorf im Untersuchungsgebiet für ein neues Stadtquartier, den „Blankenburger Süden" liegt. Bis zu 2.000 Wohneinheiten könnten langfristig binnen zwölf Jahren auf der Fläche der KGA entstehen - so geht es aus dem Ende August beschlossenen Stadtentwicklungsplan Wohnen 2030 hervor. Von der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen heißt es zwar, dass es für die Kleingartenanlage „derzeit keine planerischen Überlegungen" gebe, eine „Potenzialfläche" seien die Schrebergärten aber dennoch.

Naturzugang für Jedermann

All das klingt bitter angesichts der Entwicklung, die die Kolonie in den letzten Jahren hingelegt hat: Auf dem Gelände gibt es jetzt einen Naturpfuhl, wo die seltene Knoblauchkröte lebt, wie Vereinschef Thiel stolz erklärt. Anwohner können „Kräuterspaziergänge" durch die Kolonie unternehmen, fast jeder Garten verfügt über einen eigenen Bienenstock, Kinder bekommen Nachhilfe in Sachen Gärtnern. Anfang September hat die Stiftung Naturschutz Berlin der Kolonie für ihr Engagement sogar den Berliner Naturschutzpreis verliehen.

Alexandra Immerz macht die Öffentlichkeitsarbeit für die KGA Heinersdorf, postet auf Instagram Bilder von selbstgeernteten Pfirsichen, von Marienkäfern und von Pächtern, die zusammen mit Anwohnern Dorffeste feiern. Sogar beim Klimastreik seien ein paar gewesen, berichtet die Wahl-Berlinerin. Immerz, die aus einem kleinen Dorf im Allgäu kommt, das so viele Einwohner zählt wie die Kleingartenanlage Parzellen, ist seit acht Jahren Pächterin. „Meine Tochter wird 2030 aus dem Haus sein", sagt sie. Da habe sie schon geplant, noch ein bisschen „rumzugärtnern". Jetzt befürchtet sie, dass daraus nichts mehr wird. Auch Katrin Ziegert ist verunsichert, allerdings schon seit 1988, als sie ihre Parzelle gekauft hat: „Honecker wollte hier schon '66 die Wohnungen hinbauen", berlinert die 77-Jährige. Und passiert sei bis heute nichts, stattdessen würden nur die Schutzfristen immer weiter verlängert.

Und trotzdem: „Wenn wir uns verstecken, sind wir bald weg vom Fenster", meint Ziegert.

Präsent sein, sich der Allgemeinheit öffnen und nicht hinter den eigenen Gartenzwergen verstecken - diesen Wandel habe er vor fünf Jahren angestoßen, sagt Thiel. Seither gibt es neue Spazierwege durch die Anlage, Sitzbänke und eine Gaststätte. Der große Vereinssaal, in dem lange Zeit nur Kleingärtner-Sitzungen stattfanden, wird inzwischen vermietet, für Partys und Hochzeiten.

Gibt es ihn tatsächlich nicht mehr, den verpieften Kleingärtner, der zurückgezogen sein Stück Grün bestellt?

„Janz weg kriegt man's nicht", meint Ziegert.

Doch die meisten Pächter hätten begriffen, dass sie umdenken, sich öffnen müssen, wirft Thiel ein. Und: „Die Deutschlandfahne weht hier nur noch, wenn Weltmeisterschaft ist."

So wie die Pankower Kolonie arbeiten immer mehr Kleingartenanlagen in Deutschland daran, sich von innen heraus zu reformieren, indem sie öffentliche Wege schaffen, Parkbänke aufstellen und Spielplätze bauen. Vor allem in den Großstädten geht man aber noch weiter: In Hamburg und Freiburg beispielsweise verschmelzen Wohnungsbau und Kleingartenwesen sogar: Steht hier ein Wohnungsneubauprojekt an, werden nach Möglichkeit neue Kleingartenflächen direkt an den Wohnungen geschaffen. In Dortmund hat die benachbarte Kita eine eigene Parzelle, in Hannover gibt es einen „Gemeinschaftlichen Abenteuer- und Natur-Garten" für Menschen aus der Nachbarschaft.

Eine solche Vorzeige-Kolonie ist die „Ehrliche Arbeit" in Adlershof nicht. Weder Proteste noch Kampagnen hat es hier gegeben. Keine Versuche, den Erhalt der Kolonie in der Öffentlichkeit zu bewerben. Obwohl die beiden Schulfreundinnen Dorit Litke und Manuela Münzelfeld durchaus Ideen hatten: Mit einem Stand auf dem Adlershofer Herbstfest vielleicht, oder mit einer Gartenparty anlässlich der Fête de la Musique. Sogar einen Slogan für ihre Kampagne hatte Dorit Litke schon: „Kleingärten for Future". Geworden ist aus all dem nichts - und es scheint, als seien Litke und Münzelfeld ein bisschen enttäuscht von sich selbst. „Wir hätten uns darum kümmern müssen", gesteht Litke ein.

Ihr Blick fällt immer wieder auf das Schreiben auf dem Kaffeetisch. „Baubeginn 2022".

Nach dem Gespräch streift sie noch einmal durch ihren Garten. Verharrt kurz vor den vielen Beeten mit den kleinen hölzernen Namensschildchen darauf und beurteilt mit Münzelfeld den Reifegrad der Tomaten. Im Vorbeigehen pflückt sie ein paar Brombeeren, Himbeeren und Weintrauben. Sie tut es mit Hingabe.

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