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Brasiliens Energiepolitik – Vorbild oder Trugbild?

Etwa 70 Prozent der Stromversorgung bezieht Brasilien derzeit aus Wasserkraft. Vorbildlich, sollte man meinen. Doch das Gastgeberland der in wenigen Tagen beginnenden Fußballweltmeisterschaft steht wegen seiner Energiepolitik in der Kritik – und das nicht zu Unrecht.


Von Mirko Besch (Foto: Mayra Galha)

Brasiliens Wirtschaft wächst. Allerdings längst nicht mehr so stark wie im Superjahr 2010, als das Bruttoinlandsprodukt um sagenhafte 7,5 Prozent stieg. Für dieses Jahr werden weniger als zwei Prozent erwartet. Das fünftgrößte Land der Erde hat aber nach wie vor einen zunehmenden Energiehunger, und dieser Trend wird sich weiter fortsetzen. Bis 2023 erwartet das Energieministerium eine jährliche Steigerung des Stromverbrauchs um 4,3 Prozent auf 783 Milliarden Kilowattstunden. Um den wachsenden Bedarf zu decken, treibt die Regierung von Präsidentin Dilma Rousseff große Energieprojekte wie das umstrittene Belo-Monte-Wasserkraftwerk voran. Dieses wird nach seiner Inbetriebnahme mit einer Leistung von mehr als 11,2 Gigawatt (GW) das drittgrößte Wasserkraftwerk der Welt sein – nach der Drei-Schluchten-Talsperre (18,2 GW) in China und dem an der Grenze zwischen Brasilien und Paraguay gelegenen Kraftwerk Itaipú (14 GW). Das Foto zeigt den Bau der Belo-Monte-Staumauer im Januar 2014.


Proteste von Anfang an

Gegen die riesige Anlage am Rio Xingu, einem Nebenfluss des Amazonas im nördlichen Bundesstaat Pará, gibt es schon seit Beginn der Planungen Mitte der 1970er-Jahre Proteste. Nichtsdestotrotz wurde 2011 die Baugenehmigung erteilt und noch im gleichen Jahr mit dem Bau begonnen. Doch der Streit um das etwa zehn Milliarden Euro teure Projekt reißt nicht ab. Immer wieder mussten die Bauarbeiten unterbrochen werden – mal aufgrund richterlicher Beschlüsse, mal wegen der Besetzung der Baustelle durch betroffene Ureinwohner, Fischer und andere Kraftwerksgegner. Zuletzt hatte ein Gericht in der Hauptstadt Brasilia die von der staatlichen Umweltbehörde IBAMA erteilten Baugenehmigungen aufgrund nicht erfüllter Umweltauflagen für ungültig erklärt. Mittlerweile gehen die Arbeiten aber wieder voran – trotz Dutzender Klagen und dem anhaltenden Widerstand der Betroffenen.

Da voraussichtlich bis zu 40.000 Menschen wegen des Staudamms umgesiedelt werden müssen, sehen Kritiker in dem Bauwerk einen Verstoß gegen die Menschenrechte. Betroffen vom Verlust ihrer Heimat sind vor allem indigene Stämme. Laut brasilianischer Verfassung hätten sie in die Planungen mit einbezogen werden müssen, was jedoch nicht erfolgte. Ob alle Betroffenen eine Entschädigung erhalten, ist zudem noch offen. Insgesamt wird für das Belo-Monte-Kraftwerk eine Fläche von 668 Quadratkilometern – größer als der Bodensee (536 km2) – überflutet und damit unwiederbringlich zerstört. Auch rund ein Drittel der Provinzstadt Altamira geht dann in den Wassermassen unter.

Der dortige Bischof, der aus Österreich stammende Erwin Kräutler, kämpft seit Jahren gegen die drohenden Umweltschäden durch die Anlage und die Verdrängung der indigenen Bevölkerung. Das Bauwerk lässt sich mittlerweile aber kaum noch verhindern, denn die Arbeiten daran sind schon weit fortgeschritten. „Meine größte Besorgnis ist nicht, ob Belo Monte gebaut wird. Belo Monte ist bereits Realität. Wir müssen jetzt für die Betroffenen kämpfen, dass sie nicht so unmenschlich behandelt werden, wie es jetzt geschieht“, erklärt der Bischof im aktuellen Dokumentarfilm „Count-Down am Xingú IV“ von Martin Keßler.


Gefahren für die Umwelt

Während die Regierung ungeachtet der Kritik weiterhin auf die Wasserkraft als billigen und umweltfreundlichen Stromlieferanten setzt und unzählige weitere Kraftwerke im Amazonasgebiet plant, sehen Umweltschützer im Gegensatz dazu große Gefahren für Mensch und Natur. Denn laut Experten wie dem US-Biologen Professor Philip Fearnside vom Instituto Nacional de Pesquisas da Amazônia (INPA) in Manaus trügen riesige Wasserkraftwerke – entgegen ihrem sauberen Image – besonders in tropischen Regionen stark zum Treibhauseffekt bei. Vor allem Methan und CO2 würden in großen Mengen an die Atmosphäre abgegeben. Staudämme in Amazonien seien daher alles andere als eine saubere Energiequelle. Das sieht auch Professor Sergio Pacca von der Bundesuniversität in São Paulo so. Er erklärt, nach der Überflutung der meist aus Bäumen und Wurzeln bestehenden Biomasse im Staubecken entstehe durch deren Zersetzung giftiges Methan. Je höher die Temperatur, umso schneller laufe der Prozess ab. Das Bedenkliche daran: Methan fördert die Klimaerwärmung viel stärker als Kohlendioxid.

Die Entwaldung bringt aber noch zwei weitere Probleme mit sich: Zum einen speichern die Bäume CO2 aus der Atmosphäre, insofern geht bei deren Abholzung ein nicht unerheblicher Teil des Schutzes für unser Klima verloren. Zum anderen beeinflussen die Wälder über den Regenkreislauf auch direkt den Wasserstand der Flüsse. Laut einer Studie des Instituto de Pesquisa Ambiental da Amazônia (IPAM), eines unabhängigen, gemeinnützigen Umweltforschungsinstituts, könnte Belo Monte durch die Rodung des umliegenden Waldes bis zu einem Drittel seines Energiepotenzials einbüßen. Aber auch so führen viele Flüsse während der trockenen Monate meist nicht genügend Wasser, um die Turbinen anzutreiben, was die Anlagen somit auch wirtschaftlich fragwürdig erscheinen lässt.


Schwache Leistung

Im Fall Belo Monte soll das Kraftwerk – Studien zufolge – im Jahresdurchschnitt lediglich 40 Prozent seiner maximalen Leistungskapazität erreichen. Dazu werden bis 2019 noch 2.100 Kilometer lange Trassen durch den Regenwald gebaut, um den in Belo Monte erzeugten Strom an die Verbrauchsorte im Zentrum und Süden Brasiliens zu transportieren. So viel Aufwand für 40 Prozent? Und dann kommt das umstrittene Kraftwerk noch nicht einmal der brasilianischen Bevölkerung zugute, sondern produziert Strom für die exportierende Aluminiumindustrie.

Eine Bestätigung ihrer wirtschaftlichen Bedenken erhalten Anlagengegner auch von der britischen Universität Oxford. Denn Wissenschaftler der Hochschule haben vier Jahre lang zahlreiche große Wasserkraftwerke der Welt analysiert und kommen zu dem Schluss: Große Staudämme sind unrentabel. Unter anderem lägen die Baukosten durchschnittlich um mehr als 90 Prozent über den projektierten Zahlen, außerdem wurde die Bauzeit im Schnitt um 44 Prozent überschritten.

Unterdessen sind in Brasilien viele weitere Wasserkraftwerke entweder bereits in Bau oder zumindest längst in Planung – der Großteil davon liegt im Amazonasgebiet. Am Rio Xingu werden weitere Staudämme errichtet, und auch der westlich gelegene Rio Tapajós wird in den nächsten Jahren mit mehreren Staudämmen und Wasserkraftwerken bestückt – darunter die ebenfalls hoch umstrittene Großanlage São Luiz do Tapajós (6,1 GW). Bis 2022 sollen in Brasilien Wasserkraftwerke mit einer Gesamtleistung von rund 40 GW entstehen.


Drittes Atomkraftwerk in Bau

Doch obwohl die Regierung den Ausbau der Wasserkraft vorantreibt, muss Brasilien die Stromerzeugung auf weitere Schultern verteilen und die erhöhte Nachfrage zusätzlich auch mithilfe anderer Produktionsformen decken. Eine der Schultern sollte eigentlich die Atomkraft sein. Derzeit sind zwei Reaktoren in Betrieb, ein weiterer befindet sich in Bau und soll 2018 ans Netz gehen. Alle drei befinden sich am Palmenstrand in der Nähe von Angra dos Reis, rund 150 Kilometer westlich von Rio de Janeiro. Noch vor einigen Jahren wollte Edison Lobão, Minister für Bergbau und Energie, noch 50 AKWs bauen lassen. Dann hieß es, bis 2030 sollen vier neue Reaktoren entstehen. Doch selbst deren Bau wird laut Mauricio Tolmasquim, Präsident der brasilianischen Energieplanungsbehörde, immer unwahrscheinlicher. Die Reaktor-Katastrophe im japanischen Fukushima vom März 2011 habe die hohen Sicherheitsrisiken der Atomenergie offenkundig gemacht. „Dies ist der Moment der Windkraft“, sagte er in einem Interview mit der Nachrichtenagentur Reuters. Und über zu wenig Wind braucht sich Brasilien nun wahrlich keine Sorgen machen.


Windkraftausbau geht voran

„Endlich“, möchte man sagen, hat Brasilien also auch die Windkraft für sich entdeckt. Denn diesbezüglich gibt es hier – vor allem an den Küsten im Nordosten und im Süden – ein riesiges, aber bisher wenig genutztes Potenzial. Studien prognostizieren eine mögliche Leistung von bis zu 350 GW. Laut dem Global Wind Report des Global Wind Energy Councils betrug die installierte Windkapazität des Landes Ende 2013 gerade einmal ein Prozent davon, nämlich 3,46 GW. Doch der Windkraftausbau geht nun deutlich rascher und mit großen Zielvorgaben vonstatten.

Nachdem im vergangenen Jahr 34 Windparks mit einer Leistung von 0,95 GW neu errichtet wurden, sollen 2014 Anlagen mit einer Kapazität von etwa 4 GW hinzukommen. Mit dann rund 7,5 GW würde Brasilien in die Top Ten der weltweit größten Windenergiemärkte aufsteigen. Zum Vergleich: China (91,4 GW) führt die Rangliste mit deutlichem Vorsprung vor den USA (61,1 GW) und Deutschland (34,3 GW) an. Bereits jetzt befinden sich in Brasilien Windkraftanlagen mit einer Gesamtleistung von mehr als 10 GW in Bau. Und bis 2022 soll die installierte Windkraftleistung laut Energieplan der Regierung dann rund 17 GW betragen.

Aber warum hat sich Brasilien mit dem Ausbau der Windkraft so viel Zeit gelassen? Nach Aussage des Physikers Prof. Heitor Scalambrini von der Bundesuniversität Pernambuco ist das große Potenzial der Windenergie erst vor Kurzem entdeckt worden. Frühere Untersuchungen hätten den Wind in lediglich 50 Meter Höhe gemessen. Erst durch neuere Studien seien die erfolgversprechenderen Werte ans Licht gekommen. Natürlich hat die Verzögerung aber auch etwas mit Geld zu tun. Denn die Produktionskosten waren vor ein paar Jahren noch zu hoch, sodass die Windenergie preislich nicht mit der Wasserkraft mithalten konnte. Das hat sich mittlerweile geändert, dafür gibt es anderweitige Probleme. So warten zum Beispiel in den Bundesstaaten Rio Grande do Norte und Bahia im Nordosten des Landes 48 fertig gebaute Windparks mit einer Leistung von 1,27 GW darauf, ans Netz angeschlossen zu werden. Der Bau der zugehörigen Übertragungsleitungen hat sich verzögert, sodass der Anschluss erst 2015 hergestellt sein wird.

Richtig glatt scheint bei der Windenergie bisher aber sowieso nicht alles zu laufen. Zu Beginn des Ausbaus wurde mancher Windpark offenbar außerhalb der gesetzlichen Vorschriften errichtet. So sollen dabei Mangrovenwälder oder Dünen zerstört oder Windräder teilweise direkt an Wohnhäusern erbaut worden sein. Heute werden die Windparks in der Regel nur noch im Hinterland gebaut, wo sie das ästhetische Empfinden nicht so sehr stören.


Anreize für Solarenergie

Neben der Windkraft wird auch die Solarenergie künftig mehr Anteile im Energiemix Brasiliens besitzen. Denn in diesem Bereich ist das Potenzial des größten südamerikanischen Landes ebenfalls riesig. Selbst in den schattigsten brasilianischen Bundesstaaten liegt die Sonneneinstrahlung um bis zu 40 Prozent höher als in Deutschlands sonnenreichsten Gebieten. Seit 2012 gibt es eine Verordnung für private Betreiber von Solaranlagen mit einer Leistung von bis zu einem Megawatt (MW). Sie können ihren überschüssigen Strom ins öffentliche Stromnetz einspeisen und die Netzbetreiber müssen ihnen diesen auf die Stromrechnung der Folgemonate anrechnen. Größere Anlagen existieren bisher dagegen hauptsächlich in Form von Pilotprojekten. Doch die brasilianische Stromregulierungsbehörde ANEEL bietet inzwischen Anreize für umfangreichere Vorhaben: Kommerzielle Anlagen, die bis Ende 2017 in Betrieb genommen werden, erhalten innerhalb der ersten zehn Jahre eine Vergünstigung in Höhe von 80 Prozent und anschließend von 50 Prozent auf die Steuern für die Nutzung der Verteil- und Übertragungsnetze. Anlagen, die ab 2018 betrieben werden, sparen 50 Prozent.

Aufmerksamkeit für die noch sehr gering eingesetzte erneuerbare Energie sollen vor allem die neu installierten Photovoltaik-Anlagen auf einigen Dächern der WM-Stadien schaffen – wie zum Beispiel beim Estádio Nacional in Brasilia, beim Estádio Mineirão in Belo Horizonte, bei der Arena Pernambuco in Recife und auch beim altehrwürdigen Maracanã-Stadion in Rio de Janeiro, wo am 13. Juli das Endspiel ausgetragen wird.


Kosten deutlich gesunken

Ähnlich wie bei der Windkraft blockierte der Preis für Solarstrom lange Zeit die Umsetzung der vorhandenen Ausbaumöglichkeiten. Doch mittlerweile sind die Kosten deutlich gesunken, sodass die Sonnenenergie nun langsam, aber sicher Fahrt aufnimmt. Derzeit hat Brasilien lediglich eine installierte Photovoltaikleistung von etwa 46 MW zu bieten. Zum Vergleich: In Deutschland waren Ende des vergangenen Jahres knapp 34.700 MW installiert. Allerdings wurden im Dezember 2013 bei einer regionalen Auktion im Bundesstaat Pernambuco Lizenzen für Solarkraftwerke mit einer Gesamtleistung von 123 MW verkauft. Zudem wird es in diesem Jahr auch die erste landesweite Auktion ausschließlich für Photovoltaikprojekte geben. Bisher mussten Solarkraftwerke bei Auktionen mit anderen Energieträgern konkurrieren und gingen dabei leer aus.

Neben Wind und Sonne existiert in Brasilien aber auch noch ein drittes riesiges Energiepotenzial, und zwar eine verbesserte Effizienz. Vor allem auf den langen Stromtrassen von den weit entfernten Wasserkraftwerken in Amazonien hin zu den Energieverbrauchern geht ein großer Teil der Energie verloren. Die sogenannten Transmissionsverluste würden sich durch Modernisierungsmaßnahmen deutlich verringern lassen. Immer wieder zeigen die anfälligen Netze Schwächen, wie zuletzt Anfang Februar 2014. Nach Kurzschlüssen in einer zentralen Hochspannungsleitung kam es zu einem flächendeckenden Stromausfall in über 400 Städten. Etwa 3,5 Millionen Menschen mussten zwischen vier Minuten und mehr als zwei Stunden auf Strom verzichten.

Derartige Blackouts sind in Brasilien keine Seltenheit. Im Hinblick auf die Fußball-WM sowie die Olympischen Spiele 2016 bemüht sich das Land daher um die Stabilität seines Stromnetzes. Auch der Weltfußballverband FIFA forderte Maßnahmen wie zusätzliche Umspannstationen für die Stadien. Die Sicherstellung der Stromversorgung erfolgt jedoch verstärkt durch den Betrieb konventioneller Kraftwerke, deren derzeitige Erzeugungskapazität bis 2022 von rund 17 GW um weitere 5 GW ausgebaut werden soll. Aktuell haben Kohle, Öl und Gas einen Anteil am Strommix von knapp 13 Prozent.


Viele Hausaufgaben

Brasilien hat also noch viele Hausaufgaben zu erledigen, will das Land den wachsenden Energiehunger seiner rund 200 Millionen Einwohner starken Bevölkerung stillen. Die Regierung setzt mit dem Ausbau der Wasserkraft im Amazonasgebiet aber auf das falsche Pferd, denn die geplanten Anlagen zerstören Teile einer einzigartigen Natur, bringen die dort lebenden Menschen und Tiere um ihre Lebensräume, gefährden durch hohe Treibhausgas-Emissionen die Umwelt und können wohl noch nicht einmal wirtschaftlich betrieben werden. Dabei stehen mit der Wind- und Solarenergie zwei deutlich günstiger gewordene Energiequellen als Alternativen parat, die die geringere Wasserkraftleistung während der Trockenperioden ausgleichen könnten.



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