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Neu-Friedenwald: Die abgeschirmte Gemeinde

Wirklichkeit oder Fantasie? Ein Bar-Abend in Neu-Friedenwald. Foto: Kirsten Brandt

Bis zum 20. Juni kann man die fiktive Gemeinde Neu-Friedenwald besuchen. Abgeschirmt nach außen soll im geschlossenen Gemeindesystem eine perfekte Welt entstehen. Ein Theaterprojekt.

Ein wahres Großaufgebot an Darstellern, Kostümbildnern, Musikern, Fotografen sowie Video- und Performancekünstlern hat unter der Leitung der jungen Theatermacherinnen Jos Porath und Kirsten Brandt die Vorbereitungen für ein besonderes Theatererlebnis zur Vollendung gebracht. The Shells – Ausflug nach Neu-Friedenwald wird vom 13. bis 20. Juni in drei Phasen zur Aufführung kommen. Über ihr Projekt sprechen die Kreativköpfe mit Verve und Leidenschaft.


Im Greenhouse, dem ehemaligen Arbeitsamt im Industriegebiet zwischen Neukölln und Tempelhof, hat die Theaterproduktion ein ganzes Stockwerk angemietet. Hier ist die Gemeinde Neu-Friedenwald als Schauplatz der Handlung entstanden. Vom bunten Leben zwischen Herrmannstraße und Tempelhofer Feld trennt den Ort eine kurze Busfahrt. Am verfallenden Krankenhaus und der Ruine einer ehemaligen Schule geht es unter einem am Straßenrand wehenden Sternenbanner vorbei, raus zu einer Insel im Meer der Großstadt. „Das Surreale dieses Ortes hat uns fasziniert“, sagt Porath.


Neu-Friedenwald ist ein Fantasie-Ort, der dennoch nur in Berlin denkbar ist: Die Gemeinde ist das Produkt einer sozialen Utopie, deren Fassade nach siebzig Jahren zu bröckeln beginnt. Gegründet wurde sie kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in den Wirrnissen der zerstörten Hauptstadt durch Angehörige der amerikanischen Streitkräfte. Abgestoßen von den sozialen Entwicklungen in der Heimat beschließen die Neo-Puritaner ihre Version eines kleinbürgerlichen Arkadiens in Berlin umzusetzen.


Perfekte Welt

Abgeschirmt nach außen soll im geschlossenen Gemeindesystem eine perfekte Welt entstehen. Der Ort, der das Böse in die Welt jenseits der eigenen Grenzen verlagert, ist auf Selbstreinigungskräfte angewiesen. Das Geschehen zwischen Gartenzaun und Apfelkuchen wird von Kameras überwacht, zusätzlich zur sozialen Kontrolle im Nachbarschaftsverbund. In dieses vermeintliche Idyll, einer Art Truman-Show in Neukölln hinter verschlossenen Toren, wird allein während der Touristensaison Einblick gewährt.


Was den Besuchern geboten wird, ist eine zweisprachige Theaterinszenierung, die zu den selten gesehenen Spielarten modernen Theaters gehört: Den Ausflug nach Neu-Friedenwald erleben Besucher als aktive Teilnehmer des Stückes. Empfangen werden sie als Touristen in der fiktiven Gemeinde, die sich im Zusammenspiel mit den Schauspielern erkunden lässt. Der 13. Juni ist der Tag des Prologs. Im Besucherzentrum wird mit den Strukturen der Gemeinde vertraut gemacht und ein erster Einblick in die Abgründe der Stadt gegeben. Vor Ort ist auch ein Ermittlungsbeamter des BKA, der den notdürftig vertuschten Sexualmord an Einwohnerin Cecilia aufklären soll und dabei auf eine Mauer des Schweigens und kollektiven Verdrängens trifft. Unmittelbar vor der Touristensaison ist das Verbrechen als „bedauerlicher Vorfall“ abgetan worden.


Während der folgenden Tage lässt sich in jeweils zwei vierstündigen Besuchsphasen in die dunkle Geschichte dieser Gemeinde eintauchen. Wie die Besucher ihre Zeit Neu-Friedenwald verbringen, entscheiden sie selbst. Aus der Struktur des Stückes ergeben sich vorgezeichnete Spuren, doch wie die Erkundung verlaufen wird, entscheidet sich durch die Interaktion mit den Darstellern. Auf diese Weise wird die Auflösung der Fassade einer scheinbar heilen Welt individuell erlebbar. Der 20. Juni schließlich ist der Tag des Epilogs. Die Touristen nehmen Abschied und werden mit der Frage, wie viel Neu-Friedenwald in uns allen steckt, entlassen.


David Lynch’s Twin Peaks

Wen diese Geschichte an David Lynch’s Twin Peaks erinnert, liegt nicht falsch. Die Kultserie lieferte die Inspiration zu der Berliner Variante der Kleinstadtdystopie. „Wo Twin Peaks das Mystische im Native American ansiedelt, haben wir uns mit Lokalhistorie in Brandenburg und Hexenverfolgung auseinander gesetzt“, erklärt Brandt. Die Vorbereitungen erstreckten sich über mehr als ein Jahr und wären ohne den Enthusiasmus der Beteiligten undenkbar gewesen. Zur Finanzierung setzten Brandt und Porath erfolgreich auf Crowdfunding. Sherilyn Fenn, die in Lynchs Serie die Audrey Horne spielt, unterstützte die Kampagne.


Von den Schauspielern wird viel verlangt. In Workshops werden die nach persönlichem Vertrauen ausgewählten Kollaborateure auf die Belastungen der experimentellen Performance vorbereitet. Dieses Theater kennt keine Koketterie mit dem Spiel, kein Aus-der-Rolle-Fallen. Die Schauspieler müssen ihre Rollen nicht geben, sondern für die Dauer des Stücks sein. Im Mittelpunkt wird nicht die Kriminalgeschichte stehen, sondern „das Psychogramm einer Gesellschaft. Die Mittel, die zur Durchsetzung der Utopie nötig sind, basieren auf Gewalt“, betont Brandt.


Es ist ein wagemutiges Unterfangen, das die Berlinerinnen zur Umsetzung getrieben haben. Kirsten Brandt bringt es auf den Punkt: „Wären wir mit einer realistischen Perspektive an das Projekt rangegangen, würde es das Projekt nicht geben“.


The Shells – Ausflug nach Neu-Friedenwald, Gottlieb-Dunkel-Straße 43, Neukölln. Infos und Tickets unter: http://theshells2015.com




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