Es ist ein weiter Weg vom San Francisco des Jahres 1970 zum Dresden unserer Tage. The Grateful Dead, die Ikonen der amerikanischen Gegenkultur aus Haight-Ashbury, zogen mit „Workingman’s Dead“ einen lakonischen Schlussstrich unter die Befreiung, die von der Hippie-Bewegung und dem kollektiven Traum des LSD ausgehen sollte. Ihre Rückkehr zum Folk markierte einen Wendepunkt. Längst über das vielbeschworene Ende der Geschichte hinaus erweisen heuer The Gentle Lurch mit „Workingman’s Lurch“ dem Vorgänger die Referenz.
Die
Zeiten haben sich grundsätzlich geändert. The Gentle Lurch zeigen sich mit
ihrem dritten Album keineswegs als Epigonen. Wendeten sich The Grateful Dead
von einer Vision befreiten Lebens ab, so kann von dem Vorhandensein einer
solchen im heutigen Post-Kapitalismus keine Rede mehr sein. Kollektiv geglaubte
Gegenkultur lässt sich nur noch im Rückspiegel der Historie bestaunen. Wo keine
Transzendenz zu erwarten ist, gerät das Individuum in die Isolation. So
erzählen The Gentle Lurch unter ironisch-larmoyantem Titel von Arbeit als der
alltäglichen Stagnation, die schließlich erst im Tod die Biografien vereint.
Ihren
poetischen Pessimismus gießen die Dresdner in einen experimentellen Folk, der
epischen Weiten des Erzählens verbunden ist und sich um schnelle
Konsumierbarkeit wenig schert. Dass „Workingman’s Lurch“ bei aller Autonomie
der Stücke, aller stilistischen Vielfalt mit Einflüssen aus Rock, Country,
Gospel und Americana ein emotional direktes und in sich geschlossenes Album
geworden ist, gehört zu den seltsamen Kunststücken dieser eigenwilligen
Formation und der von Produzent Johannes Gerstengarbe geschaffenen
Klangästhetik.
Ronny
Wunderwald am Schlagzeug und Timo Lippold am Bass geben den Stücken des Albums
ein rhythmisches Fundament, auf dem sich die mal spartanischen, mal komplexen
Arrangements zu den verzweigten Endpunkten der Erzählung aufmachen. Der
stoisch-düstere Textvortrag Lars Hillers findet eine Erlösung in der diskreten
Melancholie Cornelia Mothes’, die sich neben dem Flügel-Spiel wesentlich
stärker als Sängerin exponieren darf. Das gesangliche Wechselspiel erweitert
den tastend-stockenden Gestus der Band um wertvolle musikalische Farbtöne und
melodiösen Fluss. Refrains sucht man auf dem neuen Album beinahe vergeblich,
doch atmet „Workingman’s Lurch“ in einzelnen Stücken dank
Streicher-Arrangements und munter quertreibendem Groove durchaus ungewohntes
Pop-Appeal.
Vor so viel musikalischem Aufbruch stellt sich die Frage, ob vielleicht doch nicht alle Hoffnung auf Befreiung vergebens ist. Und so mündet das Album in ‚Nesting’ in den beschwörenden Zeilen: „There was something that sat on my heart like a moth / But I flew free from the sludge and the sloth.” Einsamkeit kann befreiend sein. „Workingman’s Lurch“ ist ein Monolith, ein progressives Folk-Album und zugleich ein Statement von stiller Größe.