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Hunger nach Zukunft

Kein Job, kein Geld, keine Zukunft. 57 Prozent Jugendarbeitslosigkeit plagen derzeit das größte Land der iberischen Halbinsel. Die einen treten in Hungerstreik, die anderen verlassen das Land, wieder andere träumen vom Auszug aus dem Elternhaus. Einblicke in die Welt junger SpanierInnen.

 


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Sie essen nichts. Nichts mehr. Ein junger Mann sitzt eingehüllt in Decken, der kalte Novemberwind bläst ihm ins Gesicht. Umrundet wird er von weiteren Menschen, die sich in ihre Winterjacken verkriechen. PassantInnen schlendern vorbei, bleiben stehen, mustern die halbzerschlissenen Kartonschilder. „Untätig zu bleiben hilft nichts!“ und „Jorges Gründe sind unser aller Gründe“, steht darauf geschrieben.


Am 12. Oktober ist Jorge Arzuaga nach Madrid gekommen, um in Hungerstreik zu treten. Weitere Menschen haben sich ihm seitdem angeschlossen. „Die Gründe sind zahlreich. Aber im Prinzip ist es vor allem die Unerträglichkeit der jetzigen Situation.“, erzählt der 25-jährige Student aus Bilbao. Der Tiefbauingenieur ist momentan arbeitslos. Während seiner Studienzeit hat er als freiwilliger Helfer in humanitären Projekten in Indien, Peru und Spanien mitgewirkt und sich an verschiedenen Protesten beteiligt. Doch das war ihm zu wenig. Deswegen ist er nun einen Schritt weitergegangen. „Ich fordere den Rücktritt der Regierung. Sie sind mit einem Wahlprogramm angetreten, das sie bei Weitem nicht eingehalten haben. Es gibt viel Korruption, jeden Tag werden Familien zwangsdelogiert und auf die Straße gesetzt, weil sie ihre Kredite nicht mehr abbezahlen können. Bei der Gesundheit und der Bildung wird massenweise eingespart. Die Löhne werden immer niedriger und Massenentlassungen immer häufiger.“, schildert der Spanier seine Gründe. “Mir war schon seit Jahren klar, dass ich etwas gegen diese Situation tun möchte und tun muss. Wir sind momentan resigniert, wir glauben wir können nichts machen. Aber wir haben die Verantwortung und auch die Pflicht die Situation zu ändern.“


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Untertags sitzt Jorge am Hauptplatz Madrids, der Puerta del Sol. Jenem Platz, an dem vor zwei Jahren die „Indignados“, die Empörten, ihre Zelte aufgeschlagen haben. Die berühmte 15-M-Bewegung hatte hier ihren Ursprung. Ähnliche Gründe wie Jorges führten damals hunderttausende Menschen auf die Straßen. Heute eilen auch Menschen über den Platz. Lebensgroße Micky-Mouse-Figuren rufen ihnen „Foto, Foto!“ nach. LotterieverkäuferInnen preisen ihre Scheine an. PolizistInnen bahnen sich mit ihren Motorrädern den Weg durch die Menschenmassen. Und in all dem Trubel sitzen unter der Statue fünf Menschen auf Decken und Kartonresten: Alex, Alejandro, Frank und Gisela, die sich nach und nach Jorges Essensverweigerung angeschlossen haben. „Körperlich fühle ich mich gut und psychisch noch viel besser.“, sagt Gisela nach mehreren Tagen ohne fester Nahrung. Nur isotonische Getränke nehmen die Streikenden zu sich.

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Während des Tages gesellen sich immer wieder Menschen zu den Protestierenden. Es wird diskutiert, Schach gespielt, geschlafen. Untertags leisten vor allem ältere Menschen Jorge und dem Rest Gesellschaft, am Abend kommt die Jugend. Die ersten Nächte hat der junge Mann noch auf der Straße geschlafen, inzwischen nächtigt er bei Menschen, die ihm und den anderen Unterkunft anbieten.


„Es ist mir klar, dass wir in schwierigen Zeiten leben, aber auf sozialer Ebene dürfen wir das nicht mehr hinnehmen. Alleine die Arbeitslosenzahlen, besonders die der Jugendlichen, sollten eigentlich allein schon ausschlaggebend für eine gesellschaftliche Revolte sein.“, empört sich Jorge. Bei 27 Prozent liegt dem Internationalen Währungsfonds zufolge momentan die Arbeitslosigkeit im Land der Tapas und der Stiere. Bei den unter 25-jährigen haben 57,4 Prozent keinen Job, in der EU übersteigt nur Griechenland mit 58% diese Rekordzahl. Der Bedarf nach freien Arbeitsstellen ist groß, davon durfte sich auch der Möbelkonzern IKEA Anfang Dezember überzeugen. Innerhalb von 48 Stunden wurden 20.000 Bewerbungen online für 400 angebotene Stellen in der Region Valencia eingereicht, was die Website zum Abstürzen brachte.


„In eine WG zu können wäre schon toll“


Abseits der großen Geschäftsstraßen sitzt Javier Rodríguez García in einem Café, nippt an seinem Cappuccino und erzählt von seinem Leben. Seinem Leben seitdem er seit Mai vergangenen Jahres auf Arbeitssuche ist. „Zig Lebensläufe habe ich verschickt, zu ungefähr 25 Bewerbungsgesprächen wurde ich eingeladen, aber bei keinem genommen.“ Der 25jährige Madrilene hat angefangen Luftfahrtingenieur zu studieren und hat nach einigen Monaten auf Jus umgesattelt. Fertig studiert, Pflichtpraktika absolviert, Englisch aufgefrischt und nun kein Job nach dem Jus-Magister. Seit einem Monat arbeitet er als Assistent an der Wirtschaftsfakultät seiner Universität. Fünf Stunden, drei Nachmittage die Woche. Studiert hat er an der Universidad Autónoma de Madrid, laut internationalen Rankings die beste öffentliche Universität Spaniens im Rechtsbereich. Rund 5000 Euro haben ihn allein die Studiengebühren gekostet. Nach Studienende hat er sich auch für weitere Praktika beworben. Nicht genommen. Nada. „Es ist schwer eines zu finden und meistens sind sie nicht bezahlt oder wenn, dann nur um die 300 Euro im Monat. Das ist momentan üblich im Rechtsbereich.“


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Einer Studie des nationalen Jugendinstituts aus dem Sommer 2013 zufolge leben 61 Prozent der 25-jährigen SpanierInnen noch zu Hause. Also jede/r Zweite in einem Alter, in dem die meisten ihr Studium oder ihre Ausbildung bereits beendet haben und theoretisch in den Arbeitsmarkt eintreten sollten. Bei den 29-jährigen liegt die Zahl immerhin noch bei beachtlichen 38 Prozent. Südländische Familienliebe und Hotel Mama hin oder her: die Mehrheit, so wie Javier, residiert nicht ganz freiwillig noch im familiären Heim. Der Madrilene wohnt gemeinsam mit seiner kleinen Schwester und seinen Eltern im Norden der spanischen Hauptstadt. Ausziehen würde Javi gerne, schon eine WG wäre für ihn eine große Freude. Doch auch dafür ist das Geld zu knapp: „Klar finde ich ab und zu so etwas wie einen Sommerjob, aber das reicht nicht, um auszuziehen.“ Ob er sich an den zahlreichen Demonstrationen beteilige? „An einigen schon. Aber das geht auch nicht jeden Tag.“ Spanien würde er gerne verlassen, so wie viele seiner FreundInnen, die sich inzwischen ein Leben abseits der Heimat aufgebaut haben. „Doch was soll ich mit spanischem Zivilrecht im Ausland machen?“, schmunzelt er.


„Wir hoffen, dass ihr uns eines Tages zurückkehren lasst!“


„Es gibt viele Arten zu reisen. Urlaubsreisen, Vergnügungsreisen, Geschäftsreisen,…“, tönt eine Frauenstimme aus dem Off. Es ist Esthers Stimme. Die 30-jährige Spanierin ist die Protagonistin eines Youtube-Filmes, der Anfang Oktober 2013 veröffentlicht wurde. Eine rasche Verbreitung über soziale Netzwerke und diverse Medien hat zu über 4 Millionen Aufrufen binnen kürzester Zeit geführt. Ihre Geschichte ist rasch erzählt: Esther und Jorge sind ein Paar, das vor über zwei Jahren aus Spanien aufgrund der schlechten Zukunftsaussichten ausgewandert ist.“Wir wussten, dass uns in Spanien nichts Gutes erwarten würde. Nachdem wir studiert hatten, auch in anderen Ländern, unsere Master und zahlreiche Praktika absolviert hatten, wollten wir nicht so viel Zeit investiert haben, um dann jahrelang in einem x-beliebigen Job zu verbringen.“, schreiben Esther und Jorge per Mail. Seit sie Spanien verlassen haben, konnten sowohl Esther als auch Jorge durchgehend in ihren gewünschten Arbeitsbereichen arbeiten: Tourismus, Marketing und kreative Arbeit.


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Esther und Jorge sind nur ein Beispiel der vielen SpanierInnen, die ihr Land seit Beginn der Krise 2008 verlassen haben. Allein im Jahr 2012 waren es mehr als 82.000. Viele versuchen ihr Glück in den restlichen EU-Staaten, allen voran Deutschland. Andere gehen nach Lateinamerika, wie Esther und Jorge, um dort vor allem aufgrund der gemeinsamen Sprache ihr Glück zu versuchen. Eines Tages beschließen die beiden ihre Familien in Valencia zu überraschen und den Besuch mit Kamera aufzunehmen. In ihrem Video „La sorpresa“ („Die Überraschung“) werden die ZuschauerInnen ZeugInnen der Freude der Eltern, als sie nach so langer Zeit ihre Kinder wieder in die Arme schließen können. Aber auch der Abschiedstränen, die ein Monat später erneut am Flughafen vergossen werden, als Esther und Jorge wieder weg müssen. Weg in ihr neues Leben weit entfernt der alten Heimat. „Wir hoffen, dass ihr uns eines Tages zurückkehren lasst!“, richten sich die beiden an die PolitikerInnen und BankerInnen, die sie für die Misere in ihrem Land verantwortlich machen.


Würden sie gerne zurückkommen wollen? „Klar würden wir das. Aber nur mit besseren Arbeitschancen. Ich glaube, die Situation ist momentan noch schlechter, als damals als wir gegangen sind. Um dir eine Idee zu machen, wovon ich spreche…“, schreibt Jorge, „wir hätten keine Sozialversicherung mehr, das Arbeitslosengeld haben sie uns gestrichen, weil wir aus Spanien weggegangen sind und die Unterstützungen für UnternehmerInnen gibt es nicht mehr.“ Er fügt noch hinzu: “Aber wer weiß… Es gibt ein Sprichwort, das mir sehr gut gefällt: Die Vergangenheit ist Geschichte, die Zukunft ist ungewiss und das Jetzt ist ein Geschenk, deswegen wird es „presente“ genannt (Anm.: „presente“ kann auf Spanisch sowohl Gegenwart als auch Geschenk bedeuten).“


Tränen, Abschied, 22-M


Auch in der Madrider Innenstadt werden Tränen vergossen. 41 Tage sind vergangen seit Jorge seinen Hungerstreik begonnen hat. Ein Mitkämpfer hat seinen Streik bereits beendet. An einem Donnerstag Ende November werden Jorge, Alex, Gisela und Frank mit Applaus empfangen, als sie um die Mittagszeit den Hauptplatz betreten. „Wir haben beschlossen unseren Streik zu beenden.“, erklärt Jorge vor den versammelten Menschen. Tränen laufen dem jungen Spanier über die Wangen, die mittlerweile durch den Gewichtsverlust merklich eingefallener sind. Zwischendurch immer wieder Sprechchöre der geschätzten 70 anwesenden Menschen: „Das vereinte Volk wird niemals besiegt werden!“. Nachdem Jorge und seine MitstreiterInnen das Ende ihres Streiks verkündet haben, wird das Megaphon für das umher stehende Publikum freigegeben. Eine junge Frau ergreift als erste die Gelegenheit: „Großen Dank an euch, dass ihr eure Gesundheit für uns riskiert habt. Dass ihr uns wieder Hoffnung gegeben habt. Es bringt nichts sich zuhause schimpfend zu verkriechen. Wir müssen uns vereinen und zusammen kämpfen!“.


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Damit endet vorerst der Kampf von vier jungen Menschen gegen „das System“. Nüchtern betrachtet ist der Sieg nicht groß gewesen. Weder die Regierung noch große nationale Medien haben auf die Hungerstreikenden reagiert. Aber es hat eines bewirkt, was Jorge Arzuaga sich von Anfang an gewünscht hat. Es hat bewegt. Es wurde protestiert, diskutiert, nach Lösungen gesucht, sich vernetzt. Und es soll weitergehen. Im ganzen Land werden seit Wochen von Privatpersonen und Organisationen „Märsche der Würde“ vorbereitet, die am 22. März 2014 in Madrid zusammenfinden sollen. Eine Million Menschen in der Hauptstadt zu versammeln, das ist das Ziel. Und dort zu bleiben, so wie damals bei den Zeltstädten. 22-M soll sich genau so in die Köpfe einprägen, wie der 15. Mai vor zwei Jahren. Denn darin sind sich alle Anwesenden einig: untätig zu bleiben hilft nichts.

 

 

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Fotos: Milena Österreicher