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Les Flâneurs | Artikel: Ja, ich wohne „außerhalb". Bitte kommt damit klar.

Foto: Michael Schock

Ehrlich, ich kann es nicht mehr hören. „Och ne, bei dir? Du wohnst so weit draußen!" Nein, das stimmt nicht. Meine Wohnung befindet sich im südlichen Zipfel von Farmsen-Berne, im Nordosten Hamburgs. „Direkt hinter Wandsbek", sage ich meistens apologetisch, wenn wie in 80 Prozent der Fälle die Reaktion kommt: „Farmsen-Was? Nie gehört. Ist das noch Hamburg?" Ja verdammte Scheiße, und es ist nicht mal ein Randbezirk! Ich fahre vom Hauptbahnhof aus 18 Minuten mit der U1, die ich zu Fuß in sieben Minuten von meiner Haustür aus erreiche. Ich bin perfekt angebunden. Ich habe einen See vor meinem Fenster. Ich kann immer bei offenem Fenster schlafen. Die markierten Gänse quaken im Sommer, das ist die größte Lärmbelästigung. Davon ab ist es sehr still hier. Ich kann mir die Miete leisten. Ich kann mich vor Parks und Naherholung in der Umgebung kaum retten. Es ist wirklich schön hier.


Und doch: Es ist anscheinend die größte Todsünde, in der zweitgrößten Stadt Deutschlands zu leben, und sich eben nicht 24/7 in St. Pauli, Sternschanze, St. Georg, Altona oder Eimsbüttel herumzutrollen, gerade als Medienmensch. Ja, wenn ich vor die Tür gehe, dann treffe ich keine rebellischen Typen, die in einer Antifa-Band spielen. Auch das Rockabilly-Girl, das gerade ein Sabbatical vom anstrengenden Kunstgeschichtestudium einlegt, ist hier selten. Ich habe keine zumutbare Bar, die ich fußläufig unter einer halben Stunde erreichen könnte. Noch kein Tourist hat meine Hausfront abfotografiert, weil sich großflächige Street Art darauf befindet. Hier wohnen eben ein paar Familien, viele Arbeiter, die morgens früh das Haus verlassen. Undercuts und rauschige Bärte - Fehlanzeige. Mützen trägt man hier auch nur, wenn es kalt ist. Verrückt, ich weiß. Es ist ein wenig wie in einer Kleinstadt, die an der Grenze zum Upgrade steht.


Wo ich wohne, da lebt der Mittelstand. Das kenne ich aus meiner Kindheit. Groß geworden in einem Dorf kurz vor Wolfsburg, bin ich es gewohnt, Bus zu fahren. Und zwar mit Bussen, die nur im Halbstundentakt kommen, am Wochenende mit viel Glück jede Stunde. Dagegen ist das hier mit der U1 purer Luxus. Auch im ländlichen Göttingen, wo ich studierte, habe ich im grünen Weende im Norden gewohnt, direkt vor dem Gelände der Uniklinik. Ich weiß schon, was jetzt kommt: „Dann zieh doch zurück in die Kleinstadt!" Bullshit, Leute. Ich habe 2012, als ich wegen einer Hospitanz zwei Monate wieder bei meinen Eltern wohnen musste, gemerkt, dass das keine Option für mich ist. Denn ja, ich bin kein Großstadttyp, aber ich bin ein Typ, der die Großstadt braucht. Denn abgesehen von den erwähnten Faktoren Mietpreise und Geräuschkulisse, finde ich es auch ehrlich gesagt ganz gut, als der Typ, der ich bin, hier zu wohnen.


Ich gehe gerne und häufig auf Konzerte. Ich hänge auch gerne in Bars rum. Bei manchem WG-Besäufnis in St. Pauli gehörte ich zum harten Kern, der die Playliste manipulierte, während der Rest im Halbschlaf frühmorgens vor sich hin philosophierte. Ausstellungen und Theater besuche ich seltener als es mir lieb ist, aber dennoch sehr regelmäßig. Alles ist möglich. Ich habe alle diese Optionen, wegen denen ich hier her gezogen bin. Der Skandal: Es macht mir nichts aus, mich dafür in die U-Bahn zu setzen, darin langsam wach zu werden, zu lesen, versunken Menschen zu beobachten. Unter der Woche nehme ich im Winter eben die letzte Bahn kurz vor eins. Im Sommer mache ich viel mit dem Fahrrad, da bin ich dann völlig unabhängig. Zur Hölle, ich spaziere auch schon mal nach Hause, weil mir danach ist. Das braucht seine Zeit, aber ich kann es nur jedem ans Herz legen. Es gibt Zeit zum Nachdenken, zum intensiven Musikhören, zum Den-Kopf-frei-kriegen. Klar macht man das nicht, wenn man sonst aus der Haustür direkt in die erste Bar fällt. Da entgeht euch was.


Und dennoch kann ich nicht ins kulturelle Vakuum zurück. Ich brauche es aber auch nicht, mittendrin zu sein. Meist kommt die größte Entrüstung über meinen Wohnort von Leuten, die ich, ohne das despektierlich zu meinen, als eher wenig gefestigt einschätze. Die meisten brauchen die Bestätigung, die Impulse vom Umfeld, um sich in Bewegung zu setzen. Sie brauchen das bewundernde „Oh, du wohnst direkt auf'em Kiez?" Ich brauche das nicht. Ich bin in meinem Charakter und meiner Lebensgestaltung soweit gefestigt genug, dass ich die volle Dröhnung Großstadt nicht nötig habe, um auf gute Ideen zu kommen. Vielmehr bin ich der Beobachter von außen, der dadurch auch einen differenzierteren Blick hat. Ich nehme mir das Angebot, das mir am ehesten gefällt, den Rest lasse ich eben liegen. Ich muss nicht auf jede Party, nur weil sie gerade passiert und ums Eck ist. Ganz ehrlich: Wir wissen alle, dass sich das Meiste immer wiederholt und weit weniger spektakulär ausfällt als angekündigt. Und Monotonie, das kenne ich schon vom Dorf. Sag mir, wann und wo eine interessante Ausstellung eröffnet wird. Bock auf Theater? Danach noch Umtrunk auf Schanze - kein Ding, in 40 Minuten bin ich da, wenn ich Bock habe. Und wenn nicht, bleibe ich daheim.


Spießigkeit ist wie so vieles im Leben relativ. Im Kern meiner Ausführungen steckt: Mit geistiger Spießigkeit komme ich nicht klar. Auch das spricht gegen das geregelte Leben auf dem Lande, wo nicht nur das Angebot, sondern oft auch der Geist klein gehalten ist. Das ist ein Klischee, aber wer nicht in der Großstadt geboren ist, weiß, wie es ist, sich an den Feiertagen daheim für dieses und jenes erklären, fast rechtfertigen zu müssen. Nein, hier in Hamburg habe ich alles, was ich brauche. Ich habe mehr Angebot, als ich nutzen kann. Ich kann mir den Kiez geben oder am Hafen sitzen. Ich kann in WGs oder einer Bar versacken. Ich kann dir aber auch einen Kuchen backen und wir schauen hier gemütlich auf meinem Sofa einen Film. Hier draußen, in Farmsen-Berne. Das wird schön, das wissen wir beide. Aber bitte beklag' dich nicht darüber, dass das so weit draußen ist.

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