♦ Mit Spannung erwartete ich das Sololivedebüt von Charlotte Brandi, Sängerin und Keyboarderin der frisch aufgelösten Me and my Drummer, von denen ich großer Fan war. Nach der ersten Single war ich skeptisch, der Auftritt im Mojo Club bestätigte leider: Ohne Matze Pröllochs' sehr markante und prägnante Percussion verfällt Brandi in einen ungewöhnlich kraftlosen Dudeljazzpop. Dabei klang ihre Stimme großartig wie eh und je, auch die Cellistin der neu zusammengestellten Band hatte tolle Solomomente. Die Lieder überzeugten mich aber noch nicht. Eine interessante Ansage machte Brandi übrigens kurz vor Ende des Sets: „Me and my Drummer gibt es nicht mehr ... und ich sach' mal so: Meine Entscheidung war das nicht!"
♦ Zu modern-schlichten Sneakern passt durchaus auch ein großer Bergkristall um den Hals. Oder war es Quarz, keine Ahnung. Aber Lord Kesseli & the Drums überraschten uns als unwesentlich gothyer als erwartet, im verwinkelten und stickigen Irish Pub Thomas Read am Nobistor. In richtiger Atmosphäre hätte das Set der Schweizer Psypostrocker sicher für ein paar angenehme Tagalbträume gesorgt, war aber eher ein klassischer Fall von „Gute Band in nicht für Konzerte geeigneter Location". Immerhin war der Weihrauchgeruch angenehm, den Kesseli mit seinem hin und her schwingenden Rauchfass verbreitete. Kein Witz. Ich bin eh ganz pro individuelle Band-Räucherstäbchen.
♦ In der geliebten St. Pauli-Kirche beschwor Lion mit ihrer Stimme Bonnie Tyler herauf, röhrte so laut und kraftvoll durch das Kirchenschiff wie ich es dort selten erlebt habe. In ihren einfachen, aber kraftvollen Rocksongs passierte mit einfachen Mitteln recht viel, die putzig-zauselige Dame wirkte aber auch einfach so sympathisch und ehrlich, dass dadurch ihre Songs zu mehr wurden als simple Gitarrenjammer mit 70er-Anleihen. Sie transportierte sich in ihrer Musik einfach hervorragend. Ihre Unterstützerin Linda Perry (ihr wisst schon, 4 Non-Blodes und so) feuerte von der Seite aus an. Lion sollte man live sehen, ehe man reinhört. Guter Rat, was?
♦ Sind wir inzwischen so weit überm Hipsterbashing drüber, dass wir es wieder salonfähig machen können? Das Set von Jungstötter im feinen kleinen kukuun wird uns aus manch falschen Gründen in Erinnerung bleiben. Zunächst wurde erst wenige Minuten vor Beginn des Sets der Einlass gestattet - sehr ungewöhnlich, da normalerweise die Clubs und Locations fast dauerhaft offen stehen während des Festivals. Das ehemalige Sizarr-Mitglied Fabian Altstötter zog mit seinem neuen Soloprojekt einige skurrile Typen an, die dann geballt in den Club stürmten. Das ‚Highlight' war ein älterer Herr, der sich während der melancholischen Balladen fortwegs selbst im Gesicht befingerte, zur Irritierung aller Umstehenden. Ansonsten fabriziert Alt/Jungstötter aber durchaus hübsches Chanson-Liedgut, das mich frapierend an Patrick Wolf, bloß ohne Streicher, erinnerte. Nur der 80er-Stricherlook muss einfach nicht mehr sein, das sorgt eher für unberechtigte negative Vorbehalte.
♦ Den Spruch des Festivals lieferte ein Sachse während des formidablen Sets von Get Well Soon in der Hauptkirche St. Michaelis. Konstantin Gropper und Orcheser plus diverse Gastsänger wie die hochgeschätzte Kat Frankie bekamen zwischen zwei Liedern des Sets von einem aufgebrachten Zoni in breitestem Sächsisch entgegen gewettert: „Euer Licht! Euer Licht is'n Albtraum!" Hintergrund: Gropper und Freunde gaben auch vertonte „Nightmares" des Songschreibers zum Besten. Dabei hatte unser aufgebrachter Wutbürger durchaus Recht, die aufgestellten Strahler ballerten in fast jedem Song grelles Gegenlicht. Aber etwas charmanter hätte man das schon anbringen können. Nun ja, dafür hatten wir in den folgenden Tagen viel Freude mit Varianten seines Zurufs. „Euer Ersatzverkehr is'n Albtraum!" (Hallo HVV, U3 während des Reepoerbahn Festivals sperren? Fail) oder „Euer Geschnatter is'n Albtraum!"
♦ Ane Brun spielte ebenfalls in der Hauptkirche St. Michaelis ein Set, das mich daran erinnerte, warum das Reeperbahn Festival so großartig ist. Das Vibrato ihrer Stimme und die von Streichern begleiteten Lieder der Norwegerin passten hervorragend in das weiß-goldene Setting des Hamburger Wahrzeichens. Pure Eleganz. Und auch akustisch hatten Brun und Co. den Saal voll im Griff, hatten keine Probleme mit dem Kirchenhall. Im Gegensatz zu Okkervil River, die tags zuvor hier absolut fehlbesetzt waren. Bandleader Will Sheff gab unumwunden zu, dass ihm bis kurz vor Anreise gar nicht klar war, dass sie in einer Kirche spielen würden. Entsprechend matschig und überladen klang auch das Set. Und obwohl ich großen Respekt vor der Band habe: Sheffs Stimme ist einfach nicht schön, ein wehleidiges-schiefes Wimmern, das durch die Kirche noch nervtötender Klang und das Verstehen und Schätzen der tollen Texte unmöglich machte.
♦ Überhaupt muss man es sagen, auch wenn das wegen der Unmenge an Angeboten ein sehr subjektives Statement ist: Die starken Frauen dominierten dieses Reeperbahn Festival. Da war etwa auch die New Yorkerin Half Waif, die im Imperial Theater esoterisch angehauchten, dennoch sehr kraftvollen Elektropop spielte. Und im sehr spärlich besuchten Resonanzraum feuerte MarieMarie ebensolchen mit hervorragendem Schlagzeuger und Elektrotüftler ab. Gut, hätte ich vorab gelesen, dass die Wahlberlinerin mal versuchte, beim ESC mitzumachen und einen Song mit Rea Garvey gemacht hat, wäre ich wohl auf Abstand gegangen. Aber so, unbedarft, überraschte die rothaarige Diva (teilweise auch an der Harfe) mit starker Stimme, eingängigem Pop und einer absolut kurzweiligen Show. Illustrerweise bespielte simultan weiter oben im Bunker Philipp Poisel das Uebel & Gefährlich - als die Push-Nachricht der offiziellen Festival-App kam, es sei ja noch Platz. Gibt halt inzwischen einfach genug, eher zu viele nölige junge deutsche Liedermacher.
♦ Beim A Summer's Tale 2017 gefielen mir Bear's Den durchaus, waren aber auch einfach eine weitere der typischen Naturburschen-Bartfolk-Bands mit überromantischen Texten und Mitsinggejohle. Eigentlich hatten wir ihren Auftritt in der Elbphilharmonie auch nicht eingeplant, kamen aber überraschend doch an zwei Karten direkt vor der Bühne. Und sich dann Samstag um Mitternacht doch noch faul und müde dorthin aufzumachen, war eine gute Entscheidung, denn die neuen Arrangements mit Orchester hoben die Lieder der Briten deutlich über den Durchschnitt. Besonders die Atmosphäre im Saal stimmte. Der gelungene Abschluss eines Reeperbahn Festivals, das keine riesigen Highlights zu bieten hatte, aber einfach wieder einen Haufen gute Konzerte bot. Danke dafür.
* Charlotte Brandi (Mi, 19.9., Mojo Club, 20:15 - 21:00) * Half Waif (Mi, 19.9., Imperial Theater, 21:10 - 22:00) * Lord Kesseli & the Drums (Mi, 19.9., Thomas Read, 22:10 - 22:50) * Jungstötter (Mi, 19.9., kukuun, 23:15 - 00:00) * Lion (Do, 20.9., St. Pauli-Kirche, 21:00 - 21:35) * MarieMarie (Do, 20.9., Resonanzraum, 23:10 - 00:00) * Okkervil River (Fr, 21.9., Hauptkirche St. Michaelis, 19:40 - 21:10) * Get Well Soon (Fr, 21.9., Hauptkirche St. Michaelis, 22:40 - 00:30) * Ane Brun (Sa, 22.9., Hauptkirche St. Michaelis, 22:50 - 00:20) * Bear's Den (Sa, 22.9., Elbphilharmonie, 00:00 - 01:10)