10 subscriptions and 7 subscribers
Article

Les Flâneurs | Wer ohne Sünde ist ...: „Jesus Christ Superstar"

Szene aus "Jesus Christ Superstar".

Ich hasse Musicals. Habe ich jetzt die Aufmerksamkeit? Gut, dann kann ich nun die entscheidende Einschränkung anführen, die zu diesem Text führte: Ich liebe „Jesus Christ Superstar". Wir waren, ich weiß nicht mehr, ungefähr 14, hatten Musikunterricht bei Herrn M., so der Typ Ökoquerkopf-mit-Ziegenbärtchen, der mit den Armen zu sehr zur demonstrierten Fuge abgeht, über den wir spotteten, gleichzeitig aber merkten, dass er ein guter Lehrer ist, weil er eben Leidenschaft für seinen Beruf und vor allem für die Materie hatte. Letzteres ist das Wichtigste. Und so lernten wir großartige Musik kennen, nicht nur Klassik, die mich teilweise noch bis heute begleitet. Und da war eben auch „Jesus Christ Superstar" dabei. Aus einem genervten Rumkriegen der Unterrichtsstunden entwickelten sich Ohrwürmer und plötzlich kaufte ich mir die Studioversion auf Doppel-CD. Während ich also mit Markus, meinem besten Freund damals, vor der PlayStation saß, lief häufig dazu „Jesus Christ Superstar". Noch vier Jahre später, als wir übernächtigt die Texte für das Abibuch in Nachtschichten redigierten, stimmten wir aus heiterem Himmel das Judas-Stück „Heaven on their Minds" an und boten eine große Show für die arme Noreen, die wohl nicht genau wusste, was ihr da in ihrem Zimmer widerfuhr.


„I remember when this whole thing began. No talk of God then, we called you a man. And believe me, my admiration for you hasn't died. But every word you say today Gets twisted ‚round some other way. And they'll hurt you if they think you've lied." - Judas in „Heaven on their Minds"


Damals fasste ich den Entschluss: Scheiß auf meinen Musicalhass, wenn „Jesus Christ Superstar" je in meiner Nähe gespielt wird, sehe ich es mir an. Es mag 13 Jahre gedauert haben, aber letztlich bekam ich die Chance in der Hamburgischen Staatsoper. Gottlob nicht in einer unsäglichen deutschen Verwurstung, sondern als Gastspiel vom Londoner Westend, neu produziert von Bill Kenwright unter der Regie von Bob Tomson. Zugegeben, meine Erwartungen waren nicht niedrig angesetzt, weshalb ich Kumpel Christoph mitnahm - seines Zeichens in völliger Unkenntnis des Stückes und insgesamt Musicals eher offen gegenüber eingestellt. Er sollte mein Korrektiv sein, und kam interessanterweise zu den gleichen Schlüssen wie ich.


Grob gesagt erzählt das Stück die letzten Wochen Jesus Christus, als Phänomen gefeiert und von der Politik als Gefahr gefürchtet, umgeben von seinen Jüngern und Maria Magdalena, oft im Zwiespalt mit sich und seinem göttlichen Vater: Ergibt das alles Sinn, was ich hier tue? Muss ich wirklich den Märtyrertod sterben? Und viele weitere Fragen. Das einfache Bühnenbild in der Staatsoper gefiel mir direkt mit seinen beweglichen Treppen, über die natürlich genügend dramatische Auftritte möglich waren, besonders schön auch die simpel gehaltene, große Dornenkrone, die über dem Aufbau schwebte und sich ab und zu in Höhe und Winkel justierte. Das Ensemble ist in seiner Zahl übersichtlich, aber durchweg stark. Besonders hervor tat sich Cavin Cornwall als Hohepriester Caiaphas, hagere Gestalt mit langen Armen, noch längeren Fingern und sonorer Baritonstimme - er erinnerte mich frappierend an Bösewicht Xerxes (Rodrigo Santoro) aus der „300"-Comicverfilmung von Zack Snyder (Funfact am Rande: Santoro soll in einer neuen „Ben Hur"-Version selbst den Jesus geben). Auch Pontius Pilatus hätte man besser nicht besetzen können, Johnathan Tweedie überzeugte als herrschaftlicher Statthalter, der in Lloyd Webbers Rockoper nicht als ultimativ böser Technokrat dargestellt wird, sondern eben auch in einem Zwiespalt steckt, was mit diesem angeblichen Heiland Jesus zu tun ist - schließlich mag er doch sicher nur ein verwirrter Wanderprediger sein, der letztlich den Tod nicht verdient. Ein moralischer Spagat, den Tweedie hervorragend verkörpert. Auch die Apostel konnten mit starken Singstimmen und nicht zu übertriebenem Spiel die Sympathien des Publikums gewinnen, Rachel Adedeji, in Großbritannien wohl als Castingshow-Teilnehmerin bekannt, mit ihrem warmen Timbre in der Rolle der Maria Magdalena sowieso. Sie hätte auch auf der Aufnahme von 1970 eine hervorragende Figur gemacht.


„But if I die, See the saga through and do the things you ask of me, Let them hate me, hit me, hurt me, nail me to their tree. I'd want to know, I'd want to know, my God, Want to see, I'd want to see, my God, Why I should die?" - Jesus in „Gethsemane (I Only Want To Say)"



Aber das Stück heißt eben nicht „Mary and the Apostels", hier steht und fällt alles mit Jesus' und noch mehr sogar Judas' Besetzung. Und hier steckt die Enttäuschung: Glenn Carter, so verdient er sich schon in der Rolle international gemacht hat, konnte in der Titelrolle nicht überzeugen. Mit 51 Jahren passt er schon vom Alter her nicht mehr zur Figur, die laut Historikern maximal 33 Jahre alt wurde, besonders stimmlich ging er in den Ensemblestücken förmlich unter, war kaum zu hören und wechselte in den vielen Situationen, in denen Jesus vor Wut schnaubend für Ordnung sorgt oder in Verzweiflung verfällt, in eine gellende, kreischige Kopfstimme, die eher unangenehm irritierte als beeindruckte. Tim Rogers wiederum gab an sich einen überzeugenden Judas, stolperte aber einige Male über komplexe Textpassagen und verfiel in ein übertheatralisches Vibrato, mit dem er angestrengt gegen den Fluss der Musik ansang, anstatt sich ihm zu fügen. Hier müssen sich die beiden einfach mit der ersten Konzeptalbumversion des Stoffes von 1970 messen, in der Murray Head (hatte 1984 mit „One Night in Bangkok" einen Hit, den ihr erkennt, wenn ihr ihn hört) den Judas mit Kraft und Verzweiflung quasi explodieren ließ, und „Deep Purple"-Frontmann Ian Gillan die perfekte Balance zwischen Jesus' Zerbrechlichkeit und Sendungsbewusstsein verkörperte. Klar, das war eine Studioproduktion, also schwer mit Livetheater zu vergleichen, aber letztlich bleibt die Frage offen, ob sich nicht vielleicht ein Jungtalent mal an der großen Rolle des Mannes aus Nazareth hätte versuchen dürfen.


Es lohnt sich trotzdem, diese Version des Musicals in einer der verbleibenden Vorstellungen zu besuchen, denn auch wenn Lloyd Webbers Kompositionen hörbar den frühen 70ern entstammen, sind diese Melodien zeitlos und kompositorisch komplex und genial. Denn mit dem „Cats"- und „Phantom der Oper"-Vater verhält es sich in etwa wie mit Coldplay: die frühen Sachen hauen einen um, während man mit fortlaufender Karriere nur noch vor der an den Massenmarkt anbiedernden Banalität schreiend davonlaufen will. Hier aber, in seinem Frühwerk, kann die hervorragende Liveband glänzen, etwa bei „The Temple". Während Jesus erst die Marktschreier zurechtweist und dann von Kranken bedrängt wird, brennen sich kraftvolle Gitarrenloops und die starken Stimmen des Ensembles ins Gedächtnis. Ein großer Moment, der Qualität des Stoffes würdig. Die Obertitel zeigen nur grobe Zusammenfassungen der Handlung, übersetzen nicht die genialen Texte von Time Rice, aber wer Appetit bekommen hat, greift beim Verlassen der Oper zur definitiven Version des Stoffes von 1970 (zu erkennen an der großen Sonne auf dem Cover) - die wird passigerweise hier verkauft.


„Every time I look at you I don't understand Why you let the things you did get so out of hand. You'd have managed better if you'd had it planned. Why'd you choose such a backward time in such a strange land? If you'd come today you could have reached a whole nation. Israel in 4 BC had no mass communication." - Judas in „Superstar"


„Jesus Christ Superstar" gastiert noch bis Sonntag, 23. August, in der Hamburger Staatsoper.
Original