Unser Autor Michael Hoh wohnt seit einiger Zeit an der amerikanischen Westküste. Am Wochenende war er in der San Francisco Bay Area unterwegs... 20. + 21.09.08, Treasure Island, San Francisco, USA.
Der Amerikaner an sich expandiert fürs Leben gerne. So auch in San Francisco und der gesamten Bay Area. Ist alles restlos bebaut, schafft man sich eben Platz auf eigene Faust. Dort wo der Financial District San Franciscos in den Himmel ragt, befand sich zum Beispiel einst offenes Wasser, und auch Treasure Island ist Teil dieser Neulandgewinnung - eine 2.300 qm große Insel mitten in der Bucht von San Francisco. Anlässlich der Einweihung der Golden Gate Bridge und der Bay Bridge hat man kurzerhand eine neue Insel aus herangeschippertem Schutt in die Bucht verpflanzt. Heute wohnen auf der unscheinbaren Insel an die 4.000 Menschen und seit letztem Jahr zieht es auch die übrigen San Franciscans auf das eckige Eiland, um die Rock'n'Roll-Bands und Elektro-Acts des Treasure Island Music Festivals zu zelebrieren.
Um größtmögliches Chaos auf der Insel selbst zu vermeiden und ein Zeichen zugunsten der Umwelt zu setzten, gelangte man lediglich via Shuttlebus dorthin. Die circa zehnminütige Fahrt wird standesgemäß durch Videobotschaften über hauseigenes Festival-TV versucht zu verkürzen, doch irgendwie achtet darauf keiner ernsthaft, denn das Panorama, inklusive Golden Gate Bridge, Alcatraz und San Francisco, ist einfach zu grandios.
Das einzig störende Manko des Festivals: der Security-Check. Schon geöffnetes Wasser wird konfisziert, man möge doch bitte die festivaleigenen Wasserflaschen à 250 ml für frustrierende vier Dollar und Bier für sieben Dollar erstehen. Ansonsten ist das heimelige Festivalareal recht vergleichbar mit heimischen Äquivalenten der Indie-Schiene: Bunjee-Jumping wird durch ein Riesenrad der alten Jahrmarktschule ersetzt, an anderen Ständen bemalt man hippiesk die Gesichter mit Blumen und neben Festival-Shirts rangiert Polit-Merchandise mit Obama-Konterfei ganz oben auf der Liste. Für deutsche Gehirnwindungen leicht unverständlich. Der Rock'n'Roll-Gehalt der deutschen Regierung, will hierzulande nicht wirklich entdeckt, geschweige denn auf Buttons oder Brust vor sich her getragen werden. Jedoch weitaus wichtiger zu diesem Zeitpunkt: die Musik - abgeliefert von Publikumsmagneten wie Justice, The Raconteurs, Tegan & Sara, Goldfrapp u.a. Zwar spielen die Acts täglich nur im schmalen Zeitfenster zwischen 12 Uhr und 22 Uhr, jedoch gibt es keine einzige Überschneidung und teutonisch pünktlich fangen die Sets ebenso an - hier merkt man, es sind Profis am Werk. Leider wird das Line-up rigoros in zwei Hälften gespalten: Samstags darf hauptsächlich Elektro und Co. an Synthesizern und Samplern schrauben, der Sonntag ist Gitarren-Pop und sattem Rock'n'Roll vorbehalten. Eine leichte Mischung hätte zeitweilig ganz gut getan, aber darüber sieht man bei einem solch stimmigen Line-up gerne hinweg.
Der Samstag beginnt mit souveränen Sets der Reggae- und Elektrosamba-Kategorie bevor zunächst Foals, dann Hot Chip die Festivalbesucher aus der entspannten Nachmittagssonne reißen und ihnen die Beats, Riffs und Synthie-Sounds vor die Füße knallen. Ambient und die schnellsten BPM des gesamten Festivals mischt der Kanadier Amon Tobin, bevor Goldfrapp in lässig-arroganter Brit-Manier die Bühne betritt: "Are you enjoying yourself? I wondered", fragt sie zwischendurch unterkühlt, sichtlich nach mehr Aufmerksamkeit ringend. "Well, maybe you'll like the next one", nörgelt sie stoisch, bevor die Dame mit "Oh la la" die Menge zum Toben bringt. Das neue Album wird fast ausgeklammert, Goldfrapp konzentrieren sich auf altbewährte Setlists.
Groß angekündigt war San Franciscos Mash-up-DJ-Resident Mike Relm, doch der entscheidet sich, weniger zu mischen, als einfach altbackenes wie Rage Against The Machine und die Beastie Boys lieblos aneinander zu klatschen. TV On The Radio legen dagegen einen souveränen Auftritt hin, der jedoch durch schlechte Soundqualität durch sporadische Pazifikwinde leicht gemindert wird.
Die klaren Renner des Abends, wie erwartet: CSS und Justice. Das eindrucksvollste Outfit liefert zweifelsohne CSS-Sängerin Lovefoxxx, die wohl ein bisschen zu tief in Björks Altkleiderkiste gestöbert hat. Ob dieses ballförmige Etwas nun aus recycelten Bierdosen, aus Stofffetzen oder aus Dachisolierung besteht, ist nicht ganz eindeutig auszumachen. Doch Bestand hat auf alle Fälle das Set der Band, die sichtlich begeistert war, einmal nicht in San Francisco selbst, sondern mit der Stadt als Kulisse spielen zu dürfen. Nach kurzem Plausch mit dem Publikum("Gay bitches and bitchin' gays are all I need! Come on, let's dance together!") wird gerockt und gefrickelt mit u.a. "Music Is My Hot Hot Sex", "Alala " und natürlich den neueren Auswüchsen wie "Dead Rat".
Pünktlich zu den ersten Tönen des Justice-Openers "Genesis" werden auch in der Bay Area die Neonstäbchen ausgepackt, die auch konsequent bis zum letzten geschraubten Ton durch die Gegend fliegen. Die Menge ist sichtlich aus dem Häuschen, erlebt man hier doch weder eine Reproduktion des Albums, noch eine Neuauflage einer alten Setlist. Hier wird neu gemischt und gemixt, Tracks neu geschrieben und mit knallharten Beats versehen. Das bereitet sogar den sonst sehr reservierten Franzosen sichtlich eine Steigerung des Spaßfaktors.
Doch bevor das Set überhaupt zu Ende geht, heißt es: an den Nachhauseweg denken. Nicht ganz unberechtigt. Wie um Himmels Willen wollen die Veranstalter tausende Besucher gleichzeitig ans Festland karren? Doch die Aufregung ist umsonst. Zwar muss man eine Stunde Wartezeit in Kauf nehmen, wenn man nicht schon vor der Zugabe in Richtung Ausgang schlendert, doch die Busverbindung zurück nach Downtown verläuft reibungslos. Blieb also genug Zeit, sich schon einmal gedanklich auf den musikalischen Wechsel zum Sonntag vorzubereiten. So unterschiedlich die musikalischen Auswüchse an den beiden Tagen, so unterschiedlich dann auch die Klamottenwahl der Festival-Crowd. Sah man am Samstag noch bis in die Haarspitzen gestyltes Jungvolk, das in dezent beißenden Farben von American Apparel bis Leuchtstoff durch die Gegend sprang, so herrscht am Sonntag gediegenes Holzfällerhemd- und Kapuzenambiente. Richtige Kracher heben sich die Festivalveranstalter passenderweise für den Sonntagabend auf. So kann man unter anderem, noch gebeutelt vom Vorabend, mit Port O'Brien und Okkervil River in der Sonne faulenzen.
Die Fleet Foxes hingegen legen ein klares Heimspiel hin. Bekannte Gesichter werden im Publikum begrüßt, sogar überziehen darf die Band. Die Umsetzung des Debüts ist für Nachmittagsverhältnisse von ausgesprochener Klarheit: Der mehrstimmige Gesang hätte nicht besser ins Publikum transportiert werden können. Sichtlich begeistert ist die Menge von Vampire Weekend (obwohl deren Sound an diesem Tag eher an eine dilletantische Schülerband erinnert), Tegan & Sara haben wie gewohnt den Klamauk für sich gepachtet. Nach dem Gitarren-Pop bis -Rock des Vorabends ist es Zeit, etwas Gitarrenfeedback von The Kills ins Publikum zu schleudern. Die perfekte Einstimmung auf The Raconteurs, die nach diversen Rumspielereien auf Album Nummer eins nun wohl ernsthaft zeigen wollen, wie viel Potential in ihnen steckt.
Konsequent wird die erste halbe Stunde deshalb nur neues Material zum Besten gegeben. Niemanden stört's, denn Benson, White und Co. rocken was das Zeug hält. Und bevor der letzte verzerrte Gitarrenton über die Menge in Richtung Bay Bridge geschickt wird, muss man sich erst einmal wieder klar werden lassen, dass man hier wohl ein Festival an einer der schönsten Plätze des Planeten miterleben darf.
25. September 2008
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