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„Fügung und Führung“

Wichard von Alvensleben befreite Geiseln aus den Fängen der SS (c) Marco Wagner

Wehrmachtsoffizier Wichard von Alvensleben stellte sich 1945 gegen die SS, um 
dieser berühmte Sonder­häftlinge abzuverlangen. 
Damit rettete er ihnen 
das Leben

Es ist der Abend des 29. April 1945, als in der Südtiroler Gemeinde Sexten im Hotel „Drei Zinnen“ das Telefon klingelt. Hauptmann ​
Wichard von Alvensleben hebt ab. Am anderen Ende ist das Oberkommando der Wehrmacht in Italien. Der Anrufer berichtet von 139 Sonder- und Sippenhäftlingen, die die SS unter Führung von Obersturmführer Edgar Stiller und Untersturmführer Ernst Bader im nahe gelegenen Niederdorf festhält. Darunter der evangelische Theologe und Widerstandskämpfer ­
Martin Niemöller, der ehema­lige öster­reichische Bundeskanzler Kurt von Schuschnigg und Mitglieder der Familie von Stauffenberg. Alvens­leben soll die Geiseln übernehmen und beschützen.

"Bleib tapfer und der treue Gott behüte Euch!"

Für die SS sind die prominenten Geiseln ein wertvolles Unterpfand für potenzielle Verhandlungen mit den Alliierten. Ernst Kaltenbrunner, Chef des Reichssicherheitshauptamtes, hat befohlen, die Sonderhäftlinge aus ­süddeutschen KZs nach Südtirol zu bringen. Gesichert ist ihr Überleben nicht: Sie sind zugleich Belastungszeugen. „Liebste Frau, die Verschleppung nach dem Süden ­beginnt. Unser Ziel wissen wir nicht. Bleib tapfer für unsere Kinder, und der treue Gott behüte Euch!“, schreibt Niemöller in einem Brief, als der Tross Ende April von Dachau in die Alpen fährt. Eine tagelange Irrfahrt beginnt. Die Gefangenen befürchten ständig, dass ihre Bewacher sie an der nächsten Straßenecke exekutieren. Dann strandet der Transport in Niederdorf. Die Geiseln werden auf Notquartiere verteilt und bewacht.


Wichard von Alvensleben wird 1902 auf Gut Wittenmoor in Sachsen-
Anhalt geboren. Als Spross einer altpreußischen Adelsdynastie besucht er Klosterschulen und die Ritteraka­demie in Brandenburg. Nach dem Abitur beginnt er 1921 eine forstwirtschaftliche Ausbildung und studiert in Eberswalde und München. Ein Nachkomme beschreibt ihn als tiefgläubig und pflichtbewusst. Alvensleben stand schon vor Kriegsende vor den Trümmern seiner Existenz: Die Rote Armee hatte Ende Januar 1945 den ­Familiensitz Tankow (heute: Danków in Polen) eingenommen und das Schloss niedergebrannt. Alvenslebens Ehefrau Cora hatte sich erschossen.


Unbegreiflich, dass die Henkergruppe klein beigab

Um Mitternacht erreicht Alvensleben Niederdorf und trifft den SS-Mann Stiller, der ihm die Lage schildert. Am nächsten Morgen fordert er Bader auf, den Auftrag als erledigt zu betrachten. Doch Bader, von einigen Geiseln als „übler Bursche“ geschildert, zögert. Sein Auftrag sei erst erledigt, wenn die Gefangenen gestorben seien. Ein Machtspiel beginnt. Alvensleben stehen 86 nervöse SS-Männer gegenüber. Zur Verstärkung ruft er 15 Soldaten zu sich, doch die Situation bleibt angespannt. Der Offizier traut der SS nicht, das Kräfteverhältnis ist unausgewogen. Also beschließt er eigen­mächtig, die SS festzusetzen, fordert 150 Soldaten an und befiehlt, den Dorfplatz zu umstellen. Als Bader und Stiller fliehen wollen, werden sie von der Wehrmacht aufgehalten. Wutentbrannt stürmen sie zu Alvensleben und rufen: „Wenn Ihre Leute von der Waffe Gebrauch machen, wird die SS auch schießen!“ Doch Alvensleben zwingt das SS-Kommando, auf Lastwagen zu steigen und abzufahren.


Niemöller, der später Kirchenpräsi­dent in Hessen und Nassau war, er­innert sich, dass es beim Abzug der SS „außerordentlich erregt“ zuging. ­
Es sei ihm unbegreiflich, dass die „Henkergruppe“ klein beigab und abzog. Alvensleben habe durch seinen entschlossenen Einsatz „dem gesamten Gefangenentransport das Leben gerettet“. Der Hauptmann lässt die Geiseln in das Hotel „Pragser Wildsee“ bringen. Alvensleben deutete sein mutiges Handeln religiös, wie er 1964 in einem Brief an Niemöller schreibt. Es sei kein Zufall gewesen, sondern „Fügung und Führung durch das Walten außerweltlicher Kräfte, die wir Christen als Gott bezeichnen“.


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