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Die Kantianerin

Seit 28 Jahren ist Kirsten-Heike Pistel in der Hochschulpolitik aktiv. Was treibt so jemanden an? Ein Porträt  


Es ist der erste Besuch eines Hochschulrektors im Heidelberger Studierendenrat und Kirsten-Heike Pistel beklebt Umschläge. Die Fachschaften sollen doch bitte die alten Briefumschläge wiederverwenden, steht auf den Klebezetteln. Nebenbei kommentiert sie die Aussagen Bernhard Eitels und sucht Blickkontakt zu ihren Sitznachbarn. Kirsten spricht leise und schnell; dass sie mit dem Gesagten nicht einverstanden ist, merkt man nur an ihrem leicht verächtlichen Lächeln. Es bleibt einem nichts anderes übrig, als zurückzuschmunzeln und ihr zu zunicken. Noch mit dem Kopf schüttelnd nimmt Kirsten da schon wieder einen nächsten Briefumschlag und setzt den Klebestift an.


Kirsten-Heike Pistel ist seit mehr als einem Vierteljahrhundert in der Heidelberger Hochschulpolitik aktiv. Fünf Rektoren hat sie überlebt. Sie war Zeugin der Bologna-Reform und gestaltete die Wiedereinführung der Verfassten Studierendenschaft mit. Jeder, der einmal die Räume des Stura in der Albert-Ueberle-Straße betreten hat, ist ihr begegnet, hat mit Kirsten ein Wort gewechselt und sich vielleicht gefragt, was diese Frau hier eigentlich tut.


Entspannt sitzt sie in der Küche des Stura-Büros, hält eine Tasse Schwarztee mit beiden Händen fest, in unregelmäßigen Abständen nippt sie daran. „Irgendwann nach Tschernobyl“ habe sie mit dem Studium begonnen, sagt sie. Kurze Pause. „Nein, es muss im Wintersemester 1988 gewesen sein. Ich merke mir so etwas nicht so genau.“ Vor 28 Jahren also, ein Jahr vor dem Fall der Berliner Mauer und ein Jahr nach Gründung der Heidelberger Studentenzeitung ruprecht. Die Welt ist seither eine andere geworden. Kirsten aber ist eine ewige Konstante. Ihre Kleidung ist es auch: An ihr dunkel grünes Sweatshirt schließt sich eine tiefrote Jogginghose an. Ihre schwarzen langen Haare hat sie zu einem Zopf geflochten. Als wir kurz draußen spazieren, wickelt sie sich einen roten Schal um den Kopf. Manchmal sieht Kirsten so aus, als würde sie gleich Pilze sammeln gehen.


Ihre Studienkarriere gestaltete sich wechselhaft: Angefangen hat sie mit einem Magisterstudium Romanistik, Philosophie und Germanistik. Nach zwei Wochen stieg sie auf Lehramt um, konzentrierte sich auf Germanistik, zwischendrin kehrte sie zur Romanistik zurück. Dann ein bisschen Mathe, Geschichte, Latein, Erziehungswissenschaft und Theologie. „Ich habe irgendwann aufgehört mitzuzählen“, sagt sie. Einen Abschluss hat sie in Germanistik, Ethik, Philosophie und Erziehungswissenschaft. Seit einigen Jahren unterrichtet sie Deutsch am Abendgymnasium, zudem gibt sie Sprachkurse für Flüchtlinge. Aktuell ist sie für Erziehungswissenschaft eingeschrieben, als Promotionsstudentin im elften Semester.


Bereits im Winter 1988 besuchte Kirsten die Fachschaften Romanistik und Germanistik. Ihr erstes Projekt: Die Uni untersagte den Fachschaften die Ausrichtung von Ersti-Einführungen. Sie fürchtete, dass daraus eine „politische Zelle“ entstehen könnte, erinnert sie sich. „Dann hast du dich zehn Semester dafür eingesetzt und irgendwann hat es funktioniert. Das sind die Erfolge, die man hat.“ Die ideologischen Grabenkämpfe der 70er-Jahre zwischen Uni und Teilen der Studentenschaft waren da zwar schon längst vorbei. Die Nachwehen spürte man aber noch knapp 20 Jahre danach: Ernst genommen wurden die Studentenvertreter in den Hochschulgremien von den Professoren nicht. Zudem war die Verfasste Studierendenschaft 1977 in Baden-Württemberg abgeschafft worden. An einer gemeinsamen Vertretung aller Studenten fehlte es.


Versuche, auf inoffiziellem Wege eine gemeinsame studentische Repräsentation herbeizuführen, scheiterten. Erst die Fachschaftskonferenz (FSK) schaffte es Anfang der 90er-Jahre, die Interessen der Fachschaften und Hochschulgruppen zu bündeln. Kurz nach der Gründung schloss sich Kirsten der FSK an. Gleich bei der ersten Wahl für den Senat schaffte sie als Nachrückerin den Einzug in das höchste Gremium der Universität, in dem alle Mitgliedsgruppen vertreten sind. Seitdem ist sie Mitglied in vielen Uni- und Fakultätsgremien gewesen. Zudem ist sie seit Jahren Mitglied der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW). Den Schlüssel für das Zentrale Fachschaftsbüro, erzählt sie, habe sie von Theresia Bauer übernommen, der heutigen baden-württembergischen Wissenschaftsministerin.


Harald Nikolaus lernte Kirsten 1994 in den Räumen der FSK kennen. Er war damals ein Redakteur des ruprecht, Kirsten war da schon mehrere Jahre in der Hochschulpolitik aktiv. Kurz danach wurden sie ein Paar. „Kirsten wusste damals schon über alles Bescheid, was hochschulpolitisch passierte“, sagt Harald. Zunächst hatte sie sich noch selbst das Wissen aneignen müssen, irgendwann seien die Menschen dann aber von allein zu ihr gekommen und hätten sie mit Informationen aus den Fächern versorgt, sagt Harald: „Besonders die Detailarbeit macht ihr Spaß.“


Was treibt jemanden an, der nach eigener Aussage regelmäßig Fachschaften besucht, „alle Prüfungsordnungen“ liest und das Mitteilungsblatt des Rektors als „interessante Lektüre“ bezeichnet? Harald hat eine einfache Erklärung: Sie möchte, dass es jeder Studentengeneration besser geht, als der vorherigen. Kirsten selbst nennt es „Kantianismus“. „Es ist die vage Hoffnung, mit Engagement irgendetwas zu erreichen, irgendetwas besser zu machen“, sagt sie. Ihren Idealismus hat sie sich bis heute erhalten. Dass der in den vergangenen Jahrzehnten in den Mühlen der Heidelberger Hochschulpolitik zerrieben wurde, gibt sie allerdings auch zu: „Anfangs dachte ich, wenn du die besseren Argumente hast, geben dir die Profs vielleicht doch recht. Irgendwann habe ich gemerkt, dass viele einem nicht die Wahrheit sagen.“ Diese Auseinandersetzungen haben bei ihr Spuren hinterlassen: Augenringe verstecken sich hinter ihrer Brille, in ihrem Haar strahlt die ein oder andere graue Strähne hervor.


Eine „Genugtuung“ und eine „Errungenschaft“ sei es für sie gewesen, als vor drei Jahren die Verfasste Studierendenschaft in Heidelberg wieder eingeführt wurde. Mit damals 45 Jahren übernahm Kirsten den Altersvorsitz des Studierendenrats und ließ sich anschließend in die Sitzungsleitung wählen. Bis heute ist sie im Referat für die Konstitution der Verfassten Studierendenschaft und Gremienkoordination tätig und hilft nach wie vor beim Aufbau der Strukturen mit. Georg Wolff, 2013 als erster Stura-Vorsitzender gewählt, arbeitet seit drei Jahren mit ihr zusammen. Als „verlässlich“ habe er sie in dieser Zeit erlebt, als große Hilfe in der alltäglichen Arbeit, aber auch als jemanden, der ganz klare Ansichten habe, wie Sachen ablaufen müssen.


„Grundsätzlich ist ihr strategisches Konzept eher maximale Prinzipientreue, auch wenn man dann mal gar nichts erreicht, aber zu den richtigen Positionen gestanden ist“, sagt Georg. Offensiv vertrete sie diese dann. Das führe dazu, dass sie polarisiere, andere sie als „sturköpfig“ empfinden, gar in tiefer Abneigung zu ihr stehen. Dabei widerstrebt es ihr, sich in den Mittelpunkt zu stellen. Für Kirsten zählt einzig die Sacharbeit. Doch mit ihrem schier unerschöpflichen Wissen und ihrer Omnipräsenz kann sie Menschen manchmal überfordern. Das wasserfallartige Runterbeten von Prüfungs- und Wahlordnungen, von Fachschaftssatzungen oder Baumängeln im Stura-Büro kann einen sprachlos machen.


Wie ist das für sie, mit Personen zusammenzuarbeiten, die deutlich jünger sind als sie selbst und deren Mutter sie sein könnte? Sie muss kurz nachdenken. Nimmt einen Schluck aus der Schwarztee-Tasse. Nein, es bedeute ihr nicht so viel. Vielmehr sei es eine „schöne Bereicherung“, wenn Leute Ideen einbringen, auf die sie vor 25 Jahren schon hätte kommen müssen. Letztlich seien es aber auch nur Leute, die sich eben engagieren. „Es muss immer um die Sache gehen.“


Das sei bei der heutigen Studentengeneration manchmal schon schwieriger. Das „politische Denken“ sei weniger gefordert. „Die strukturellen Voraussetzungen des Studiums werden nicht mehr hinterfragt.“ Vieles werde heute als selbstverständlich wahrgenommen. Zu Beginn ihres Studiums sei das noch anders gewesen: „Da hat man einen Habermas-Aufsatz gelesen und damit dann Politik gemacht“.


Wäre es da nicht Zeit abzutreten? Sie mache schon weniger, sagt Kirsten. Aktuell kümmere sie sich vor allem um die Stura-Bibliothek, um Gremienschulungen und Arbeitsabläufe. „Ich hoffe, dass es irgendwann einfach ausläuft und keiner merkt, dass ich weg bin.“ Vielleicht wäre jetzt der richtige Zeitpunkt? Die Stura-Strukturen verfestigen sich langsam, und vor zwei Wochen hat sie ihre Doktorarbeit in Bildungswissenschaften verteidigt. Das Thema: der Zusammenhang zwischen der Erbsünde und dem Bildungsbegriff im Mittelalter. Aber nein, wiegelt sie ab. Sie habe schon ein weiteres Ziel: den Abschluss ihres Theologiestudiums.


http://www.ruprecht.de/?p=11329


Veröffentlicht am 19. Juli 2016