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Feature

Zur vorletzten Ruhe in die Anatomie

Mehr Deutsche als je zuvor vermachen ihren Körper der Medizin. Angehenden Ärzten dient er als Studienobjekt. Wie wahrt man beim Präparieren die Würde des Toten?
(Reportage in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung)

Das Gesicht sieht entspannt aus, die Augen sind geschlossen, die Lippen einen Spaltbreit geöffnet. Friedlich liegt der Kopf auf dem Seziertisch. Wie Wachs glänzt die graugelbe Haut, aschgrau die Wimpern und das kurzrasierte Haar. Der Anblick wirkt künstlich. Schwer zu glauben, daß dies einmal ein Mensch war.

Ortstermin im Institut für Anatomie und Zellforschung der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. Ein gelbverputzter Kasernenbau aus den zwanziger Jahren, mitten auf dem Campus. Der Präparationssaal liegt im Dachgeschoß. Durch große Fensterbänder dringt Sonnenlicht bis tief in den Raum und vermischt sich mit dem Schein von Neonröhren. In weiße Kittel gehüllt, stehen dreißig angehende Zahnmediziner an sechs Seziertischen. Um zu betrachten, was sie bisher nur aus Büchern kannten: den menschlichen Körper. "Erst durch den Präparierkurs bekommen die Studenten ein räumliches Verständnis", sagt Erik Schulte, der Geschäftsführer des Instituts.

Präpariermesser und Skalpelle klirren auf Stahl, in Metallschalen sammeln sich Knochen und Hautreste. Wuchtige Anatomie-Atlanten liegen aufgeschlagen in Notenständern. Der strenge Geruch von Formaldehyd steigt von den Tischen auf. Es konserviert die Leichen und sticht in der Nase. Über jedem Seziertisch hängt deshalb eine Lüftungsgondel, aus der unentwegt Frischluft strömt. 24 000 Kubikmeter Luft wälzt die Anlage pro Stunde um.

Kursleiter Thomas Müller beugt sich tief über den Schädel. Gemeinsam mit den Studenten untersucht er die Kaumuskulatur. Vorsichtig durchtrennt er mit dem Skalpell das Gewebe. Dann verankert Müller einen gelben Faden in der Wange. Die Fäden helfen den Studenten, sich bei der Arbeit zu orientieren: Gelb markiert Nerven, Blau Venen, Rot Arterien, Grün Lymphgefäße.

Insgesamt 220 angehende Humanmediziner und 60 Zahnmediziner werden in den beiden Anatomiesälen des Instituts jährlich ausgebildet. Der Präparierkurs ist vielleicht der wichtigste Teil in ihrem Studium. Er liefert die Grundlage für ihre spätere Tätigkeit als Chirurgen, Orthopäden, Urologen oder Frauenärzte. "Die Studenten arbeiten das ganze Semester an ihrem Leichnam", sagt Schulte. Stück für Stück obduzieren sie den Körper: Muskeln, Nerven, Blutgefäße. 14 Wochen lang, jede Woche sechs Stunden. Inzwischen sind sie bei einem der schwierigsten Teile, dem Schädel, angekommen.

"Kein Präparierkurs, das wäre so, als würde ein Pilot den Flugschein bekommen, ohne ein einziges Mal richtig geflogen zu sein", sagt Schulte. Trotzdem haben viele Universitäten in den Vereinigten Staaten und Großbritannien Präparierkurse aus Kostengründen eingestellt. Statt dessen lernen die Studenten dort anhand von Modellen oder Computerprogrammen. Auch die Mainzer Studenten bekommen zum Semesterstart zusätzlich eine CD-ROM. Mit der Maus können sie sich durch den Körper klicken und Informationen abrufen. Aber "am Computer allein erleben sie den Körper niemals so dreidimensional", sagt Schulte.

"Wir kommen jetzt zum Ende", verkündet eine Stimme aus den Lautsprechern. Vorsichtig verstauen Claudia, Miriam und Matias den sechs Kilogramm schweren Schädel wieder in einem Edelstahlkasten. "G55, 2003" steht auf der goldenen Plakette, die an dem Präparat hängt. Registriernummer und Todesjahr - mehr wissen die Studenten nicht über die Leiche, die sie bearbeiten. "Manchmal fragt man sich schon: Was hatte der wohl für einen Beruf? Woran ist er gestorben?" sagt der Zahnmedizin-Student Matias. Für ihn ist der Kurs die erste Begegnung mit einer Leiche, inzwischen aber hat er sich an den Anblick gewöhnt. "Mittlerweile ist es einfach eine Arbeit, wie im Praktikum."

Eine solche Gelassenheit braucht ihre Zeit, um sich zu entwickeln: "Anfangs herrscht im Kurs häufig eine gewisse Ängstlichkeit", erzählt Erik Schulte. "Ich decke den Toten deshalb ganz langsam auf. Erst einen Teil der Schulter, dann Arm, Rumpf, zum Schluß das Gesicht." So können sich die Studenten Schritt für Schritt an die neue Situation gewöhnen. Nach kurzer Zeit konzentrieren sie sich auf ihre Arbeit, auf Muskeln, Venen und Nervenstränge. "Der Präparationssaal darf kein Ort der Trauer sein", sagt Schulte.

Etwa zwei Jahre bleiben die Leichen der Körperspender im Institut, dann werden sie bestattet. Auf dem Waldfriedhof in Mainz-Mombach pflegt die Anatomie ein eigenes Gräberfeld. Den Großteil der Kosten für Einäscherung, Sarg und Grabpflege, etwa 1000 bis 1200 Euro, übernimmt die Universität. Selbstverständlich ist das nicht. Nach einer Studie der Universität Halle verlangten 2004 bereits mehr als die Hälfte der deutschen Anatomien Gebühren für Körperspender oder planten, sie einzuführen. Grund ist der Wegfall des Sterbegeldes. Nachdem die Bundesregierung im vergangenen Jahr den Zuschuß in Höhe von 1050 Euro ersatzlos gestrichen hat, sind viele Institute in Geldnot geraten.

Trotz der Gebühren melden sich bundesweit jedes Jahr etwa 9000 Anwärter bei anatomischen Instituten, 2100 Leichen werden eingeliefert, knapp 70 000 Vereinbarungen abgeschlossen. Mehr als je zuvor, wie Kurt Becker vom anatomischen Institut der Universität des Saarlandes ermittelt hat. Bis zu 200 Anfragen von potentiellen Körperspendern erhält Erik Schulte jedes Jahr, im Archiv stapeln sich fast 2000 Spenderverfügungen. "Die Bereitschaft, den eigenen Körper der Medizin zur Verfügung zu stellen, ist hoch", sagt Schulte. "Zu den Spendern zählen häufig ehemalige Patienten, Mediziner oder Alleinstehende, die alles für ihren Tod regeln wollen." Sie ruhen im Keller des Instituts in einer Konservierungswand.

Ein kurzes Flackern und Klimpern, dann tauchen Neonröhren den Raum in gleißendes Licht. Es sieht aus wie in einem Kühlhaus. Rechts und links sind die Wände aus gebürstetem Stahl, selbst der rutschfeste Fußboden glänzt, als wäre er gerade frisch gewischt. Das Surren der Lüftung erfüllt den Raum. Die vorletzte Ruhestätte der Körperspender wirkt kühl und steril, schaurig wirkt sie nicht.

Die Wand hat 150 Schubfächer, 75 auf jeder Seite. An jeder der 60 mal 60 Zentimeter großen Luken glänzt ein silberner Griff. Daneben eine Plakette mit der Nummer und eine Karteikarte: "Eingang 28.02.05, Nr. 15/05, Geschlecht weiblich", steht auf Zelle Nr. 149. Nur die Präparatoren des Instituts wissen, wer dieser Mensch einmal war. Sie haben die Leiche selbst hierhergebracht.

"Die Körper liegen auf einer Art Rost", erklärt Karl-Heinz Münk. Seit 21 Jahren arbeitet er in der Mainzer Anatomie. In jedem Fach befinden sich sechs Düsen, durch die Formalintropfen gesprüht werden. Die Leichen liegen in permanentem Nebel. Gemeinsam mit seinem Kollegen Hans Becker überwacht Münk die Technik, holt die Leichen der verstorbenen Spender ab und präpariert die Körper für die Kurse.

Zwischen den Metallwänden ist eine Art Hebebühne montiert. Über ein Bedienpult können die Präparatoren damit jedes Fach der Konservierungswand ansteuern. "Die Fachnummern sind im System gespeichert", sagt Münk. Wie ein Gabelstapler fährt die Maschine auf Fachhöhe und holt die Leiche auf zwei Schienen heraus.

Im Nebenraum steht ein stählerner Seziertisch. Am Kopfende ein Waschbecken mit Schlauch und Duschbrause. In einem Wandregal ein altes Kofferradio, Einmalhandschuhe, ein Rasierer, eine Zahnbürste. "Zunächst machen wir eine Leichenschau", sagt Becker. Ein Amtsarzt untersucht den Leichnam. Anschließend beginnen die Präparatoren mit dem Einbalsamieren. Als erstes rasieren sie der Leiche die Haare ab. Dann wird ein Fixiermittel in den Körper gespritzt. Becker und Münk öffnen dafür eine Schlagader - entweder am Hals oder am Oberschenkel. Durch einen fingerdicken Schlauch gelangt ein Gemisch aus vierundneunzigprozentigem Alkohol, Wasser und Formalin in den Körper. In zwei bis drei Stunden sind das zwischen 15 und 25 Liter.

Das Formaldehyd verkettet die Eiweißmoleküle des Körpers miteinander. Es konserviert die Leiche und zerstört die zersetzenden Bakterien, die ebenfalls zum großen Teil aus Proteinen bestehen. Ein Vierteljahr lang muß die Leiche dann durchfixieren, damit sie im Kurs seziert werden kann. Der Formaldehydnebel sorgt dafür, daß die chemische Konservierung durch den ganzen Körper hindurch wirkt.

Münks Blick wandert die Fächer entlang. "Es gibt natürlich schönere Sachen als Leichen", sagt er nachdenklich. "Sie müssen das vergessen nach Feierabend, sonst kommen Sie nicht mehr klar."

Im Innenhof des Instituts parkt ein weißer, fensterloser VW-Bus. Er dient als unauffälliger Leichenwagen. Wenn Münk und Becker kommen, sieht es aus, als fahren Handwerker vor. Schließlich soll nicht das ganze Dorf merken, wenn der Nachbar von nebenan in die Anatomie abgeholt wird. Sie transportieren die Leichen zu zweit, "auch aus dem vierten Stock", erzählt Becker.

"Wir hatten auch schon Situationen, in denen wir die Leute trösten mußten", sagt Münk. Dann setzen sie sich mit den Angehörigen in die Küche, reden mit ihnen, trinken einen Kaffee. "Sie können nicht bei den Familien sein, ohne Rücksicht zu nehmen. Da kann man nicht sagen, wir haben keine Zeit." Und Erik Schulte ergänzt, daß der Tote seine Würde schließlich nicht selbst wahren könne: "Er ist darauf angewiesen, daß wir das tun. Das erfordert einen Ort des Respekts."