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Apostile

Kunstrasen oder Pappkarton?

Über die Qual der Wahl im Studium
(Der Entwurf, November 2009)

Erinnern Sie sich noch an Ihr erstes Architekturmodell? Meines war ein Plexiglas-Pavillon, der auf einem frühlingsgrünen Stück Kunstrasen stand – so einem, wie ihn Modelleisenbahnfreunde lieben. Mächtig stolz war ich auf den grünen Grasteppich, wie er da so schön im Gegenlicht glänzte. Der Professor konnte meine Begeisterung leider nicht teilen. Sein Urteil war vernichtend, ich verstand die Welt nicht mehr. Architekten mögen mehr das Abstrakte, das hatte ich nach dieser grandiosen Fehlentscheidung ein für alle Mal verstanden. Und setzte fortan auf Pappkarton.
Die Qual der Wahl, das Entweder-Oder, begleitet angehende und fertige Architekten auf Schritt und Tritt. Schon das Studium ist eine einzige Willenserklärung: Sollen meine Häuser wilde Pirouetten schwingen oder dem rechten Winkel gehorchen? Will ich mit Ziegeln bauen oder lieber mit Beton? Wird es ein Flach- oder ein Satteldach? Naturstein oder Laminat, Erker oder Balkon? Manchmal – meist zum Beginn eines Entwurfs – drängeln sich (fast) alle Fragen auf einmal nach vorn. Wie eine Horde ungebetener Gäste. Bloß nicht die ganze Truppe in einem Schwung zur Tür rein lassen, das endet im Chaos.
Das dauernde Abwegen kann einen regelrecht in den Wahnsinn treiben, vor allem wenn sich Pro und Contra ein hartnäckiges Kopf-an-Kopf-Rennen liefern. Und im Hinterstübchen langsam Zweifel gedeihen: Was wäre, wenn… ich mit meiner Entscheidung zum Beispiel völlig danebenliege.
Wir hatten im ersten Semester ein Fach namens „Plastisches Gestalten“, das wir etwas despektierlich „Kneten“ nannten. Mit einem Klumpen Ton sollten wir quadratische Würfel formen und winzige Öffnungen hineinschneiden. Spannende Proportionen, goldener Schnitt, Sie wissen schon.
Unser Professor, ein kluger Mann mit zerzaustem, grauem Haar, ging von einem zum nächsten und beäugte kritisch unsere kleinen Kunstwerke. Er sagte nicht viel, sein zweifelnder Blick reichte als Aufforderung erneut einen Klumpen Ton aus der Tonne zu kratzen und von vorn zu beginnen. Das nackte Material zwang zur Entscheidung: Schneide ich die Öffnung mittig hinein oder doch eine Spur weiter rechts? Und wo sitzt ihr Pendant auf der Gegenseite? So entstand vor mir auf dem Tisch eine Großfamilie aus Tonwürfeln, die ich langsam zu hassen begann. Doch am Ende des Semesters hatte ich so viel über Proportionen gelernt, dass es für ein ganzes Studium reichte.
Noch schwieriger als die Proportionslehre gestaltete sich allerdings die Entscheidung für einen Beruf. Denn wer Architektur studiert, muss ja noch lange nicht Architekt werden. Sondern könnte sein Glück auch anderweitig finden: als Denkmalpfleger, Stadtplaner, Immobilienmanager, Bauleiter, Illustrator, Kurator, Entwicklungshelfer, Stadtrundführer, Fotograf oder gar als Filmkulissenentwerfer. Der junge Mann mit der Vorliebe für giftgrünen Kunstrasen schreibt heute übrigens Architekturkritiken. Für die richtige Entscheidung ist es schließlich nie zu spät.