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Zentralrat der Jesiden vermisst 2.600 Frauen und Kinder

Zwei Jahre, nachdem im Irak der Sieg über den IS verkündet wurde, sind noch immer Jesidinnen in der Gewalt von Dschihadisten. Nach Erkenntnissen des Zentralrats der Jesiden wurden sie zum Teil bis nach Pakistan verschleppt.

epd: Fünf Jahre nach dem Überfall der Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) auf die Sindschar-Region im Nordirak müssen Hunderttausende Jesiden noch immer in Flüchtlingslagern ausharren. Herr Ortac, jüngst meldete eine kurdisch-irakische Nachrichtenseite die Befreiung einer 17-jährigen Jesidin, die im Sommer 2014 von IS-Kämpfern verschleppt worden war. Haben Sie Erkenntnisse darüber, wie viele Jesiden noch in der Gewalt von Dschihadisten sind?

Irfan Ortac (Vorsitzender des Zentralrats der Jesiden in Deutschland): Es sind 2.600 Frauen und Kinder, die noch immer vermisst werden. Manche von ihnen sind mit Sicherheit getötet worden, aber wir wissen, dass viele noch leben. Sie befinden sich in der Türkei, in Syrien und im Irak. Wir wissen sogar von Frauen, die in Länder wie Saudi-Arabien, Katar oder Pakistan, sogar nach Libyen und in den Jemen verschleppt worden sind. In der Türkei wurde diese Praxis zuletzt sogar legalisiert.

epd: Wie meinen Sie das?

Ortac: Ein türkisches Gericht in Kirsehir hat entschieden, dass zwei jesidische Kinder, die in die Türkei verschleppt worden sind, nicht zu ihren Familien zurückdürfen. Amir und Amira sind sechs und acht Jahre alt, sie wurden an ein staatliches Waisenhaus übergeben. Skandalöserweise wurde - angeblich - nicht registriert, wer die Kinder dorthin gebracht hat. Wir können also keine Anzeige erstatten.

Als wir von den Kindern erfahren haben, haben wir sofort Kontakt zu den Behörden aufgenommen. Ich war selbst zweimal in Ankara. Wir haben die Schwester der Kinder gefunden, die durch einen DNA-Test das Verwandtschaftsverhältnis belegte. Das Gericht entschied aber, dass die Kinder in der Türkei besser aufgehoben seien als in einem irakischen Flüchtlingslager. Sie werden im Waisenhaus übrigens muslimisch erzogen, Amira muss Kopftuch tragen.

epd: Was werden Sie jetzt tun?

Ortac: Wir gehen in die nächste Instanz.

epd: Haben Sie Kontakt zu Jesidinnen in Gefangenschaft?

Ortac: Ja. Erst kürzlich haben wir zwei Frauen im Alter von 19 und 20 Jahren aus dem nordsyrischen Flüchtlingslager Al-Hol befreit. Sie haben dort unter den IS-Frauen gelebt und geheimgehalten, dass sie Jesidinnen sind. Sonst wären sie getötet worden. Wir haben es mit viel Recherche und Kleinarbeit geschafft, sie unbeschadet herauszuholen.

epd: Die meisten Jesiden sind bis heute nicht in ihre Heimat zurückgekehrt. Wie ist die Lage am Sindschar-Gebirge?

Ortac: Die Situation ist so dramatisch, dass sie in Worte kaum zu fassen ist. 20.000 Menschen haben die Region nie verlassen. 40.000 Jesiden sind außerdem wieder zurückgekehrt. Es gibt weder fließend Wasser noch Strom, Häuser im südlichen Gebiet sind sogar noch vermint. Lebensmittel und Getränke sind nur schwer zu bekommen. Die Türkei greift Stellungen der kurdischen PKK an, und die schiitische Miliz Haschd al-Schaabi verhält sich wie eine Besatzungsmacht.

Zwölf verschiedene Milizen agieren in der Region, gefühlt alle 500 Meter ist ein Checkpoint. Lebensmittel und Baustoffe aus dem Nachbarort Tal Afar kosten das Dreifache, wenn sie in einer jesidischen Ortschaft verkauft werden. Trotz alldem möchten die Menschen zurück, weil sie lieber in ihrer Heimat leben wollen als in den Lagern. Sie wollen aber in Sicherheit und Würde leben.

epd: Aus Deutschland sind in den vergangenen Jahren Entwicklungsgelder in dreistelliger Millionenhöhe in den Irak geflossen. Kommen die nicht auch den Jesiden zugute?

Ortac: Die deutsche Politik hat sich leider davon überzeugen lassen, dass es momentan besser ist, die Flüchtlingslager zu verschönern, als den Jesiden zu helfen, in ihre Heimat zurückzukehren. Die kurdische Autonomiebehörde lässt die Flüchtlinge auch nicht los: Wollen sie gehen, müssen sie sich beim Geheimdienst, bei den Sicherheitsbehörden und bei der Verwaltung abmelden und darüber Rechenschaft abliefern. Außerdem dürfen sie nichts mitnehmen. Die kurdische Regierung in Erbil begründet das damit, dass alle mitgebrachten Dinge nur der PKK helfen, die nahe jesidischer Dörfer Stellungen haben.

epd: Ist die kurdische Verwaltung nicht froh, wenn sie sich nicht mehr um die Flüchtlinge kümmern muss?

Ortac: Kein Mensch ist dort daran interessiert, dass die Flüchtlinge weggehen. Um die Camps herum ist eine regelrechte Flüchtlingsindustrie entstanden mit Dolmetschern und Mitarbeitern von Nichtregierungsorganisationen beispielsweise - die mehr verdienen als kurdische Universitätsprofessoren. Die Menschen, um die es geht, werden dabei weiter zerstört.

epd: Können Sie als Zentralrat etwas tun, um Jesiden die Heimkehr zu ermöglichen?

Ortac: Wir arbeiten daran und helfen beim Wiederaufbau von Häusern derer, die zurückkehren wollen. Bislang konnten wir aber erst vier Familien unterstützen. Es gibt auch Projekte, Landwirtschaft und Viehzucht wieder aufzubauen.

epd: Was könnte die Bundesregierung tun?

Ortac: Es müsste eine internationale Geberkonferenz einberufen werden mit dem Ziel, die christlichen und jesidischen Orte in der Nineve-Provinz aufzubauen. Wenn der politische Wille da ist, könnte Deutschland diesbezüglich Druck machen und eine wichtige Rolle spielen. Die Bundesregierung sollte ihr Versprechen, Jesiden zu schützen, in die Tat umsetzen. Gerne würden wir dabei helfen.

epd: Deutschland holt derzeit IS-Anhängerinnen und ihre Kinder zurück. Was halten Sie davon?

Ortac: Ich hoffe, dass sie nicht straffrei davonkommen - auch deshalb, weil wir dann niemals Kronzeuginnen bekommen, die andere belasten. Viele Jesidinnen haben in Deutschland beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ausgesagt, wo sie gefangen gehalten wurden. Wenn man diese Aussagen systematisch durchgeht, könnte man sie für Verfahren nutzen. Bei der Anhörung im Bundesamt sollten Jesidinnen explizit danach gefragt werden. Oft werden Dschihadistinnen medial so dargestellt, als wären sie Opfer. Dabei sagen mir viele Jesidinnen: Die schlimmsten waren immer die Europäer und vor allem die Europäerinnen.

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