von Merle Bornemann
04. März 2018, 16:04 Uhr
Wie weit ist es
zum nächsten Supermarkt? Zum Krankenhaus oder zur nächsten Tankstelle?
Das kann in einem ländlich geprägten Bundesland wie Schleswig-Holstein
schon mal länger dauern. Wer fernab der fünf größeren Städte Kiel,
Lübeck, Flensburg, Neumünster und Norderstedt lebt, muss für die
Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen oft weite Wege antreten.
Diese Wege werden tendenziell länger, denn Banken ziehen sich aus der
Fläche zurück, Lebensmittelgeschäfte in den Dörfern machen mangels
Nachfrage dicht und so manch eine Landarztpraxis schließt in den
nächsten Jahren, wenn sich nicht doch noch ein Nachfolger findet. Zudem
gehen durch den Strukturwandel in der Landwirtschaft viele Arbeitsplätze
verloren, wodurch schlecht aufgestellte Regionen weiter geschwächt
werden. Denn wenn sich die Negativ-Spirale erstmal dreht, ist sie schwer
anzuhalten.
Doch wann ist eine Region unterversorgt?
Allgemeine Definitionen gebe es dazu nicht, erklärt Stefan
Neumeier, der am Thünen-Institut für Ländliche Räume zu dem Thema
forscht. Er legt eine Wegezeit von 15 Minuten als Schwellenwert für die
Unterscheidung einer guten von einer weniger guten Erreichbarkeit
zugrunde. „Ob dies aber wirklich der Fall ist, lässt sich lediglich
anhand der Erreichbarkeitsdaten nicht abschließend klären, da dazu auch
die Einstellung der Betroffenen zur Versorgungssituation überprüft
werden müsste“, sagt Neumeier. Das heißt: Die Versorgung in einer Region
ist immer auch subjektiv, also eine Frage der Wahrnehmung durch die
Bewohner. Der eine mag die 20 Minuten Fahrzeit tolerieren, weil er so
sehr im Grünen lebt, dass er die Strecke gern in Kauf nimmt. Der andere
kann darüber fluchen, dass die Dorf-Apotheke geschlossen hat und fühlt
sich unterversorgt.
Der ländliche Raum in SH
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Wie weit es die Einwohner von Dorf Xy zum nächsten Dienstleister haben, lässt sich für alle Wohnorte in Deutschland mit dem sogenannten Thünen-Modell prüfen. Das Thünen-Institut ist ein staatliches Forschungsinstitut in Braunschweig, das sich mit der nachhaltigen Nutzung unserer Lebensgrundlagen befasst – ländliche Räume, Wald und Fischerei. Für unsere Zeitung hat der Wissenschaftler die Entfernungen zum nächsten Hausarzt, zur nächsten Apotheke sowie zum nächsten Supermarkt für alle Gemeinden in Schleswig-Holstein dargestellt.
Vergleicht man die Distanzen mit anderen Ländern, landet
Schleswig-Holstein bei allen Kategorien im hinteren Drittel und unter
dem Bundesdurchschnitt. Die Entfernungen zum nächsten Lebensmittelmarkt,
Hausarzt oder zur Apotheke sind hier also größer als in den meisten
anderen Bundesländern.
So funktioniert das Thünen-Modell Mit einem geografischen Informationssystem wird über Deutschland ein 250-mal-250-Meter-Raster gelegt, welches für jede Rasterzelle ausweist, wie viele Menschen dort wohnen. Für jede Zelle werden dann die kürzeste Straßenentfernung und die Fahrzeit zu einem Anbieter der jeweiligen Dienstleistung ermittelt. Um die Entfernungen in Wegezeiten umzurechnen, werden Gehgeschwindigkeiten von 4,7 km/h sowie Pkw-Geschwindigkeiten von 33 km/h angenommen. Bei einer Wegezeit von bis zu 15
Minuten geht das Modell von einer guten Erreichbarkeit aus, darüber von
einer schlechten. Das entspricht einer fußläufigen Entfernung von ca.
1,2 km, mit dem Auto von ca. 8,3 km. Die Erreichbarkeit mit dem ÖPNV
wird bislang nicht berücksichtigt, soll aber künftig auch einfließen. |
Doch Stefan Neumeier kann die negative Botschaft etwas entkräften. „Die Daten zeigen auch, dass die Entfernungsunterschiede in allen Raumtypen und Bundesländern – mit Ausnahme Mecklenburg-Vorpommerns, wo in den ländlichen Räumen zum Teil die Entfernungen deutlich länger sind – nicht allzu groß sind.“ Wie in den anderen Bundesländern auch, zeige sich in Schleswig-Holstein, dass Regionen, in denen längere und kürzere Wege zu den untersuchten Dienstleistungen zurückgelegt werden müssen, sich einem Patchworkmuster gleich abwechseln.
Das liegt auch an der Geschichte unseres Bundeslandes. Wäre Schleswig-Holstein ein Puzzle, würde es in der Kategorie der ganz großen mitmischen. Aufgrund seiner historisch gewachsenen Siedlungsstruktur ist es durch eine Vielzahl kleiner Gemeinden geprägt – 1112 sind es an der Zahl. Davon definiert das Landwirtschaftsministerium 130 als zentrale Orte und Stadtrandkerne, die „Versorgungs- und Entwicklungsschwerpunkte im Land“ sind. Den nördlichsten zentralen Ort bildet Westerland auf Sylt, den südlichsten Lauenburg an der Elbe.
Auch wenn häufig ein anderer Eindruck geweckt wird: Insgesamt ist die Versorgungssituation in Schleswig-Holstein gut. Der Großteil der Einwohner kann innerhalb von 15 Auto-Minuten die Einrichtungen erreichen. Lediglich zwei Prozent der Landbewohner schaffen es motorisiert nicht innerhalb einer Viertelstunde zum Hausarzt oder Supermarkt, vier Prozent sind es bei den Apotheken, so das Ergebnis von Neumeiers Berechnungen. Wer kein Auto zur Verfügung hat, muss in einem großen Teil der ländlichen Räume jedoch deutlich mehr als eine Viertelstunde unterwegs sein. Fußläufig schafft man es nur in den Städten und Verdichtungsräumen in maximal einer Viertelstunde zum nächsten Versorger.
Ein Wort möchte Stefan Neumeier vom Thünen-Institut übrigens auf keinen Fall im Zusammenhang mit dem ländlichen Raum hören – nämlich dass Regionen „abgehängt“ seien. „In einer seriösen Berichterstattung empfehle ich darauf gänzlich zu verzichten, da den so bezeichneten Regionen dann ganz automatisch – und in den allermeisten Fällen häufig zu unrecht – ein negativer Stempel aufgedrückt wird“, erklärt der Wissenschaftler.
Wie kann die Versorgung im ländlichen Raum langfristig gesichert oder sogar verbessert werden?
Eine Frage, die nicht nur zahlreiche Dörfer beschäftigt, sondern auch Forschungsinstitute, nicht nur in Deutschland. Digitalisierung scheint das Allheilmittel zu sein. Das Fraunhofer-Institut für Experimentelles Software Engineering (IESE) in Kaiserslautern hat das Projekt „digitale Dörfer“ ins Leben gerufen. In zwei Testregionen in Rheinland-Pfalz erproben die Wissenschaftler, wie Mobilität und Logistik in dünn besiedelten Regionen auf intelligente Weise vernetzt werden können – mithilfe einer Online-Plattform, über die alle Bewohner und Unternehmen verbunden sind. Dabei geht es um Carsharing, Mitfahrgelegenheiten und Rufbusse, aber auch Tauschbörsen und freiwillige Logistik-Dienste von Bürgern, „Mitmach-Logistik“ genannt. Hier wird der ländliche Einzelhandel zum Onlinehändler. Freiwillige Bürger holen die bestellten Pakete beim Händler ab und liefern sie an den Besteller oder eine Paketstation aus, alles ehrenamtlich. Ob es Pakete zu transportieren gibt, verrät eine App. Diese steuert das aus Bestellern, Händlern und Lieferanten bestehende Netzwerk. Die Bereitschaft der Bürger, freiwillige Leistungen zu erbringen, sei enorm, heißt es beim IESE.
Der Blick nach Skandinavien, wo die Versorgung dünn besiedelter Regionen seit jeher ein Thema ist, lohnt. In Finnland beispielsweise gibt es den Versuch, über den Betrieb von Busbahnhöfen auch die Abfertigung von Fracht zu regeln – Busse fungieren dort als Paketdienst. Durch die zusätzlichen Einnahmen ist es dem Verkehrsbetrieb möglich, mehr und häufiger Busse einzusetzen und somit Dörfer besser anzubinden. Gleichzeitig gibt es an den Busbahnhöfen Lebensmittel-Kioske, an denen sich die Reisenden bei den Zwischenhalten versorgen können. Auch in Schweden ist die Paketbeförderung im Regionalbusverkehr weit verbreitet.
Um die medizinische Versorgung zu verbessern, gab es im Landkreis Wolfenbüttel (Niedersachsen) vor einiger Zeit einen Versuch mit einem mobilen Ärztebus. „Allerdings hat sich gezeigt, dass dieser bei der Bevölkerung auf wenig Akzeptanz stieß, sodass der Versuch wieder eingestellt wurde“, sagt Stefan Neumeier. Fraglich sei demnach auch immer, wie das alternative Angebot überhaupt angenommen werde.
Das Ärztezentrum, wie es Büsum etabliert hat, ist in dieser Hinsicht offenbar die deutlich bessere Variante. Die Resonanz ist auf allen Seiten positiv. Das Modell wird mittlerweile bundesweit als gute Lösung für das Problem des Landarztmangels hochgehalten. Dass die Patienten mehr als eine Viertelstunde fahren müssen, kann zwar auch dabei nicht ausgeschlossen werden – aber bis in die nächste Stadt wäre es allemal weiter.
– Quelle: https://www.shz.de/19242931 ©2018
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