Die Konzernverantwortungsinitiative will Schweizer Firmen für Verstösse ihrer Töchter im Ausland zur Rechenschaft ziehen. Doch so einfach ist das nicht, wie der Fall von Holcim in Libanon zeigt.
Als Ouni Samrout Anfang der nuller Jahre das Holcim-Zementwerk Eclépens im Kanton Waadt besuchte, traute er seinen Augen nicht. Das soll eine Fabrik sein? Der Boden so sauber wie die glänzenden Fliesen auf dem Balkon seiner Wohnung in Libanon. Vielleicht sei der Betrieb vor ihrem Besuch eingestellt worden, mutmasste einer von Samrouts Begleitern.
Doch bald zeigte sich: Die Arbeit war in vollem Gang. Als Samrout nach draussen trat, sah er Sonnenblumen neben der Fabrik. Er suchte nach Spuren von Feinstaub, der an den Blättern hängen geblieben sein könnte: nichts.
«Warum
ist das bei uns nicht so?», fragt Ouni Samrout. Er sitzt auf seinem
Balkon im libanesischen Dorf Heri, als er von dem Besuch in der Schweiz
vor fast zwanzig Jahren erzählt. Damals war Ouni Samrout Bürgermeister
der Gemeinde Kefreya, die wenige Kilometer weiter oben am Hügel liegt.
Auf dem Boden seiner Gemeinde steht die Fabrik, gegen die Samrout seit jener Zeit «Krieg führt», wie er sagt: Das Zementwerk der Firma Holcim Liban, eine Tochterfirma des schweizerisch-französischen Zementriesen Lafarge-Holcim.
Die
Vorwürfe, die Samrout und viele andere Einwohner gegen Holcim und die
beiden anderen grossen Zementfirmen des Landes erheben, sind heftig: Die
Aktivitäten der Zementindustrie schadeten der Umwelt und der Gesundheit
der Anwohner.
Schadstoffemissionen würden nicht unabhängig überprüft, die Gesetze würden den Bedürfnissen der Industrie angepasst. Denn die Industrie sei so mächtig, so verstrickt mit allen politischen Kräften, dass sie kaum rechtsstaatlichen Einschränkungen unterworfen sei.
Ouni
Samrouts Reise in die Schweiz kam damals zustande, weil Holcim plante,
in ihren Öfen Reifen zu verbrennen, um Energie zu gewinnen. Doch dazu
brauchte die Firma eine Bewilligung von ihm, dem Bürgermeister – und die
wollte er ihnen nicht geben. «Bei der Verbrennung von Reifen entsteht
Dioxin, das ist krebserregend», sagt er.
Den Beteuerungen, dass bei der Verbrennung bei 1200 Grad kein Dioxin entstehe, traute er nicht. «Holcim hat mich in die Schweiz eingeladen, weil sie dort bereits Reifen verbrannten. Sie wollten mich davon überzeugen, dass dies problemlos sei.» Das ist nicht gelungen.
Ouni Samrout war nach dem Besuch noch skeptischer als zuvor. «In der Schweiz gibt es Gesetze, hier in Libanon gibt es keine. Oder wenn es sie auf dem Papier gibt, werden sie nicht umgesetzt.» Er erteilte die Bewilligung für die Reifenverbrennung nicht.
Der
Kampf der lokalen Bevölkerung gegen Holcim Liban wirft die gleichen
Fragen auf, wie sie die Schweiz derzeit im Abstimmungskampf um die
Konzernverantwortungsinitiative (Kovi) diskutiert: Wer bestimmt die
Regeln, die für Firmen gelten, und wer überprüft sie? An welchen
Standards müssen sich Firmen orientieren? Um es mit Ouni Samrouts Worten
auszudrücken: Warum hält Holcim in Libanon nicht exakt die gleichen
Umweltauflagen ein wie in der Schweiz?
Der Fall Holcim Liban wird hier erzählt, weil er so typisch ist für die Problematik, die die Kovi aufwirft: In einem von Korruption durchzogenen Staat wie Libanon werden Gesetze nicht selten von der Regierung selbst umgangen. Lokale Gerichtsverfahren laufen ins Leere. Es fehlt die Transparenz, um mutmasslich rechtswidriges Verhalten seitens einer Firma eindeutig zu belegen.
Im Fall von Holcim Liban gibt es verschiedene Sichtweisen. Die Firma Lafarge-Holcim wehrt sich entschieden gegen die Vorwürfe der Anwohner aus Libanon. «Holcim Liban respektiert die nationalen Emissionsgrenzen, die das libanesische Gesetz vorschreibt. Dieses deckt dieselben relevanten Schadstoffe für die Zementindustrie ab», schreibt sie. Die Firma führe regelmässige Prüfungen zur Einhaltung von Menschenrechten, Umwelt- und Sicherheitsstandards durch.
Auch vor Ort finden nicht alle Holcim schlecht. Antoun Antoun ist der Leiter der lokalen Gewerkschaft. Holcim beschäftige 450 bis 500 Angestellte. «Bevor Holcim hier eröffnete, war Chekka nur ein kleines Dorf», sagt er. Die Stadt sei mit der Industrie gewachsen.
«Wir leben von dieser Fabrik. Uns ist es wichtig, dass wir weitermachen können», sagt Antoun. Zudem, sagt er, würden die Gemeinden auch von Holcim profitieren, da die Firma diverse Infrastrukturprojekte finanziere.
Der Streit um die Zementfirmen wurzelt auch in der besonderen Stellung dieser Industrie in Libanon. 1993, drei Jahre nach dem Ende des libanesischen Bürgerkriegs, verhängte die damalige Regierung ein Importverbot auf Zement. Es ist wohl das einzige Gut, das national geschützt ist: Im Übrigen importiert Libanon rund drei Viertel aller seiner Konsumgüter.
In
den neunziger Jahren boomte die Bauindustrie – vor allem durch den
Wiederaufbau Beiruts nach dem Ende des Kriegs. Doch auch danach war der
Bausektor, neben dem Tourismus und dem Finanzplatz, stets eine der
wenigen produktiven Branchen in Libanon. Der Zementmarkt in Libanon wird
heute von drei Firmen kontrolliert.
«Die ökonomische Vision in Libanon konzentrierte sich immer auf die Baubranche und den Immobiliensektor», sagt die Raumplanerin Abir Saksouk. Das Antlitz Beiruts zeugt davon, wo Luxusimmobilien und Hochhäuser weite Teile des Stadtbilds prägen. «Der Zement ist das Rohmaterial, das diese ökonomische Vision antreibt.»
Abir Saksouk hat sich mit dem Planungsrecht im Zusammenhang mit den Zementfirmen in al-Koura befasst. Das Problem dabei seien weniger die Fabriken, sondern die dazugehörigen Steinbrüche: Der grösste Steinbruch Holcims etwa stehe in der Gemeinde Kfar Hazir auf einem Gebiet, das seit 1972 gesetzlich als Landwirtschafts- und Wohnzone gilt. «Das Betreiben des Steinbruchs hier ist rechtswidrig», sagt Saksouk.
Doch
die eigene Regierung hält sich nicht an das geltende Recht: Bis zum
Jahr 2019 erteilte das Innenministerium Bewilligungen für die
Steinbrüche, obwohl es eigentlich gar nie dafür zuständig war. Erst seit
eine neue Innenministerin diese Praxis unterband, sollten nun auch
Umweltauflagen bei der Lizenzvergabe berücksichtigt werden.
Zum Beispiel sollten die Steinbrüche weit genug entfernt sein von bewohnten Gebieten. Der Holcim-Steinbruch in Kfar Hazir erfüllt dies nicht und wurde geschlossen. Doch auch dieser Entscheid hielt nicht lange: Seither hat Holcim mindestens zwei auf wenige Monate befristete Betriebsbewilligungen erhalten. Lafarg-Holcim schreibt dazu, dass man die Entscheidung der Behörden respektiere und sich bei der Betreibung ihrer Steinbrüche strikt an das lokale Gesetz halte.
Die Frage ist: Wäre es in einem solchen Fall überhaupt möglich, Holcim vor ein Schweizer Gericht zu ziehen, obwohl sie eine befristete Betriebsbewilligung der Regierung erhalten hat? Oder müsste die Firma das Gesetz einhalten, unabhängig von irgendwelchen Bewilligungen? Und wenn es zu einer Klage käme, auf welcher Grundlage sollen Gerichte über die Firma entscheiden? Auch für eine Firma dürfte es nicht ganz einfach sein, sich korrekt zu verhalten.
Ähnliche Fragen stellen sich auch beim Vorwurf der gesundheitlichen Folgen der Zementproduktion. Die Physikerin Samar Najjar engagiert sich seit vier Jahren als Umweltaktivistin, seit sie nach Abschluss ihres Studiums aus Frankreich zurückgekehrt ist. «Als ich zurückkam, habe ich gesehen, wie sehr die Steinbrüche gewachsen sind, ohne dass es gleichzeitig die notwendige Renaturierung gegeben hätte. Da habe ich festgestellt, dass etwas nicht stimmt», sagt sie.
Najjar lebt im Dorf Fiaa, das über der Stadt Chekka an einem Hang liegt. Sie fährt mit dem Auto die Hauptstrasse entlang, und zeigt dabei auf ein Haus nach dem anderen. «Hier gibt es einen Krebsfall, dort gibt es einen Krebsfall, in diesem Haus sind es drei.»
Für Najjar ist klar, dass diese hohe Zahl an Menschen, die an Krebs erkrankt sind, mit der Zementindustrie zusammenhängt: Mit den Emissionen der Fabriken, dem Feinstaub aus den Steinbrüchen in unmittelbarer Nähe der Dörfer, den fossilen Brennstoffen, die zur Betreibung der Generatoren verbrennt werden. Beweise, die diesen Zusammenhang eindeutig belegen, gibt es allerdings keine.
Dafür
fehlt es bereits an offiziellen Statistiken. Das Gesundheitsministerium
führt zwar ein Register aller Krebsfälle. Diese werden jedoch nicht
nach Gemeinden aufgeschlüsselt – was zentral wäre, um eine
Überdurchschnittlichkeit festzustellen. Najjar hat daher selbst
angefangen, Daten zu sammeln.
In dreissig Dörfern der Region al-Koura befragte sie jeweils fünfzehn zufällig ausgewählte Haushalte. Das Ergebnis: In Fiaa und Kefreya, die am nächsten an den Fabrikstandorten liegen, fand sie elf respektive zehn Fälle. In den Dörfern weiter hinten waren es jeweils nur zwei oder drei.
Auch
der Bürgermeister von Fiaa ermittelte zu dem Thema: Dreissig Jahre
lang, zwischen 1986 und 2015, dokumentierte er die Anzahl Todesfälle im
Dorf, und davon die Zahl jener, die an Krebs starben. In den ersten zehn
Jahren waren es im Durchschnitt 13 Prozent, in den folgenden einmal
über 40, einmal 33 Prozent. Lafarge-Holcim schreibt, dass ihre Fabrik
alle relevanten Standards einhalte, dass sie das Thema ernst nehme und
die Situation weiter überwachen werde.
Doch das Problem fehlender Daten reicht weiter: Schon zu Emissionen und Luftverschmutzung gibt es kaum Zahlen. «Es gibt keine zuverlässigen langfristigen Messungen der Luftverschmutzung in der Region Chekka», sagt der Umweltwissenschafter Adib Kfoury. Zwar habe das Umweltministerium vor zwei Jahren im Rahmen eines nationalen Projekts Messstationen aufgestellt. Doch es hat die Daten nie validiert.
Die regelmässigsten Messungen der Emissionen stammen von den Firmen selbst. Holcim misst seine Emissionen und leitet die Zahlen dem Umweltministerium weiter. Doch es ist dem Ministerium überlassen, ob der Öffentlichkeit die Daten zugänglich gemacht werden. Adib Kfoury hatte vor zwei Jahren Glück: Unter dem neuen Umweltminister gelang es ihm, die Zahlen für das Jahr 2018 zu erhalten. Als libanesischer Bürger hat er nämlich gemäss Gesetz das Recht, diese Informationen zu erhalten. Trotzdem erhielt er sie die folgenden zwei Jahre nicht mehr.
Was
sagen also die Daten von Holcim von 2018? «Sie sind nach libanesischen
Normen gesetzeskonform.» Aber, sagt Kfoury, der Grenzwert im Gesetz sei
über den Empfehlungen etwa der EU. Das libanesische Gesetz zu den
Grenzwerten für Industrieemissionen stammt aus dem Jahr 2001.
Auffällig dabei ist, dass die Werte sogar weniger streng sind, als in dem Gesetz fünf Jahre zuvor. «Die Logik dahinter ist, dass man den Grenzwert erhöht, weil ihn sonst niemand einhalten könnte», sagt Kfoury. «Aber die erlaubten Grenzwerte im libanesischen Gesetz sind an sich schon eine Katastrophe.»
Dass die Behörden nicht im Interesse der Bevölkerung arbeiten, ist das Resultat eines Systems, in dem korrupte ehemalige Warlords den Ton angeben, die nach dem Bürgerkrieg weitgehend an der Macht blieben. Ein System, in dem die politische Macht nach Quoten zwischen den Religionsgruppen aufgeteilt ist, in dem Klientelismus regiert anstelle von Parteiprogrammen und inhaltlichen politischen Auseinandersetzungen.
Der Fall Holcim Liban zeigt das ganze Dilemma der Konzernverantwortungsinitiative: Ein Schweizer Gericht müsste ein mögliches Fehlverhalten einer Firma in einem anderen Land beurteilen - und zwar in einem Land, in dem erstens korrupte Politiker bestimmen, zweitens Normen gelten, die zum Teil zwar internationale Vorgaben missachten, aber dennoch geltendes Landesrecht sind, drittens die eigene Regierung Gesetze umgeht, und viertens seriöse Messungen und Daten fehlen oder nicht zugänglich sind.
2002 forderte die Vereinigung der Gemeinden in Koura eine Untersuchung des Umweltministeriums zu den Emissionen. Fifi Kalab, die als Beraterin für die Uno in Libanon gearbeitet hat, war als Expertin daran beteiligt. «Die Resultate waren katastrophal», sagt sie.
Es kam zu einer gerichtlichen Untersuchung. «Der Richter in Tripolis hat den Umweltminister neun Stunden lang verhört. Und dann erhielt er einen Anruf vom damaligen Präsidenten, der ihm auftrug, den Fall nicht weiter zu bearbeiten.»
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