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Ein Trauma endet nicht mit der Flucht

Pia Andreatta hat als Notfallpsychologin viel gesehen. Die Innsbrucker Expertin für Traumakonfliktforschung arbeitete schon am Gaza-Streifen, im Libanon und während des Bürgerkriegs in Syrien. Im Interview erklärt sie, wie Betroffene nach einem Kriegs- und Fluchttrauma mitunter das lange Asylverfahren und schließlich die Abschiebung erleben.


Frau Andreatta, zunächst mal: Mit welcher Art von Trauma haben Sie es bei geflüchteten Menschen oft zu tun?

Der Traumabegriff ist sehr umfangreich, wir bezeichnen viele nachhaltig belastende Situationen als Trauma, auch einen Verkehrsunfall. Geflüchtete leiden jedoch oft unter einem sehr langfristigen Traumatypus, wir nennen das sequenzielles Trauma. Das heißt, dass sich im Leben der Betroffenen mehrere traumatische Erlebnisse verketten und aufeinander aufbauen.

Welche sind da zu nennen?

Das fängt im Krisengebiet schon vor dem Krieg an: politische Verfolgung, Hunger und Armut sorgen bereits für eine vortraumatische Entwicklung. Anschließend sind es die kriegerischen Handlungen selbst, die traumatisieren. Das können Bombenangriffe, Binnenvertreibung oder Entführungen sein. Dazwischen gibt es immer wieder Wartezeiten, in denen nichts passiert und sich die psychischen Folgen des Traumas entfalten. In dieser Zeit entscheiden sich Betroffene dann oft zur Flucht. Dabei folgen dann weitere Traumasequenzen, die wir alle aus den Medien kennen.

Wie geht es für betroffene Asylsuchende im Zielland weiter?

Die Menschen sind zwar vor dem Krieg sicher, doch ein Trauma endet nicht mit der Flucht. Von der Struktur her ähnelt die Situation in Österreich dieser Wartezeit in den Konfliktgebieten. Die Betroffenen sind schutzlos, einer höheren Macht ausgeliefert und handlungsunfähig: Sie können nicht frei über ihre Zukunft entscheiden und müssen ständig auf das nächste Urteil der Behörden warten. Bei einer drohenden Abschiebung verstärkt sich dieses Ohnmachtsgefühl. Dadurch setzt sich ein Kriegstrauma fort.

Wie wirkt sich so ein sequenzielles Trauma auf die Psyche aus?

Akute Traumafolgen kommen unmittelbar, das sind Symptome wie Schreckhaftigkeit, Angst, Schlafstörungen, ständige Flashbacks und Erregung. Das wird oft allein schon durch Flugzeuggeräusche oder den Anblick von Uniformen getriggert, also ausgelöst. Darüber hinaus gibt es aber weitaus tiefgreifendere psychische Folgen. Betroffene verlieren oft den Bezug zur eigenen Identität und haben kein Vertrauen mehr in ihr Selbst- und Weltbild. Sie verlieren die Orientierung, kapseln sich von ihrer Außenwelt ab und verwahrlosen. Diese Erschütterung des Welt- und Selbstbildes bedeutet Angst, und Angst fördert auch Aggression.

Wie geht man da als Therapeutin mit um?

Wir müssen zunächst die primären Symptome stabilisieren, erst dann können wir uns Stück für Stück an die Aufarbeitung des Traumas machen. Ganz wichtig ist, die Ressourcen zu fördern: etwa, indem man der betroffenen Person das Strickzeug für ein soziales Netz mitgibt, durch das sie neue Bindungen und Beziehungen eingehen kann. Man kann versuchen, die schlechten Erinnerungen ans Heimatland durch gute zu ersetzen, zum Beispiel durch Kochabende. Auch Bildung und Arbeit sind wichtig, damit die Menschen ihre Handlungsfähigkeit und ihren Selbstwert zurückgewinnen.

Beeinflusst die Angst vor dem negativen Asylbescheid und der Abschiebung eine solche Therapie?

Natürlich steht das Asylverfahren immer wie ein Damoklesschwert über solchen Prozessen und erschwert die Therapie, weil es die Gedanken der betroffenen Person vereinnahmt. Der Mangel an Perspektive ist so zentral, dass wir Traumata oft gar nicht erst adressieren können. Der therapeutische Fortschritt hängt von der soziopolitischen Situation in Österreich ab. Wenn Betroffenen eine Chancenlosigkeit diktiert wird, sind mir als Therapeutin die Hände gebunden, da helfen auch keine Tricks mehr. Die Politik handelt hier leider oft gegensätzlich zur Psychologie.

Kann auch das Prozedere der Abschiebung selbst, sprich die Konfrontation mit der Polizei, die Schubhaft oder die Ausreise, ein traumatisches Erlebnis sein?

Die Abschiebung reißt mich natürlich aus meiner Lebenslage heraus, das ist hochbelastend, aber nicht zwingend traumatisch. Für Personen, die schon einmal politische Verfolgung oder militärische Auseinandersetzungen erlebt haben, kann das retraumatisierend sein. Es ist nachts, es klopft an der Tür, die Situation ist bedrohlich und man wird behandelt wie ein Krimineller, der überführt wird. Selbstverständlich hinterlässt das Spuren und öffnet alte Wunden. Wie gut man so eine Belastungssituation überlebt, hängt auch von der sozialen Unterstützung ab. Im Fall Tina hat sicher geholfen, dass sie zumindest von ihrer Klasse unterstützt wurde und sich nicht so allein fühlte. Die Beklemmung bleibt trotzdem.

Können auch die Einsatzkräfte der Polizei bei einer Abschiebung Traumata erleben?

Die Einsatzkräfte sind für solche Situationen geschult und schützen sich auch mit dem Mindset, dass sie ja nur ihren Job machen und das geltende Recht vollziehen. Es kann trotzdem passieren, dass man dabei ein sogenanntes Sekundärtrauma erlebt, wenn die Situation eskaliert, man selbst in Gefahr gerät oder man biografische Bezüge zum betroffenen Menschen herstellt. Im Fall Tina hätte ein Polizist zum Beispiel an die eigene Tochter denken können und durch Mitleid handlungsunfähig werden. So könnte eine Situation auch für Beamte traumatisierend sein.

Können Abgeschobene die Therapie in ihrem Herkunftsland fortsetzen?

Es gibt NGOs, die sich auch um abgeschobene Menschen kümmern, aber es stellt sich immer die Frage, ob NGOs in einem Land operieren können, das nach wie vor von Krieg gebeutelt ist. Darum fürchten sich auch viele vor der Abschiebung: Nicht nur, weil in Österreich ihre Hoffnung zerstört wird, sondern auch, weil sie in der Heimat wieder, weiter, oder neu verfolgt werden.

Können Familie oder Freunde das auffangen?

Man kann davon ausgehen, dass viele auf sich allein gestellt sind. Sie fangen gar nicht bei null an, sondern bei unter Null: Ich glaube nicht, dass das alte soziale Umfeld einem Abgeschobenen zwingend wohlgesonnen ist, viele gelten als Landesverräter und werden zu Ausgesetzten. Wenn die Betroffenen keine Familie oder andere Strukturen vorfinden, die sie abfangen, ist das letztendlich katastrophal. Viele Geflüchtete haben Schuldgefühle, dass sie gegangen sind. Die Rückkehr erleben sie als totales Versagen. Da braucht es ausgesprochen viel psychische Kraft, damit ein Betroffener von selbst sagt: „Okay, ich bemühe mich um diesen Neuanfang.“

Eine Eigenheit des Traumas ist ja, dass Betroffene oft gar nicht darüber reden können. Spielt das bei negativen Asylentscheiden eine Rolle?

Über Trauma zu sprechen und auch Symptome zu zeigen, ist immer schwer, manche Erlebnisse kommen oft gar nicht ans Tageslicht. Da der Blick in die Zukunft verstellt ist, ist die Trauma-Verarbeitung im Sinne von Trauer oft nicht möglich. Trauer beginnt erst, wenn ich mich sicher fühle. Bei manchen sieht es darum von außen so aus, als gäbe es gar kein Problem, man nennt das Trauma-Abwehr. Betroffene versuchen, die Belastung zu überspielen und das Trauma von der eigenen Identität abzuspalten. Für viele sind die Geschehnisse in den Kriegsgebieten auch eine Selbstverständlichkeit, die sie bei einer Befragung gar nicht für erwähnenswert halten.

Werden solche Erkenntnisse Ihrer Meinung nach im Asylverfahren genug berücksichtigt?

Wir haben in Österreich zu wenig Zeit, Raum und Infrastruktur, um eine wirklich einfühlsame Befragung zu machen. Die Behörden haben nach meinem Gefühl auch kein ernsthaftes Interesse an dem, was diese Menschen wirklich erlebt haben. Dabei ist es so wichtig, die Biografie eines traumatisierten Menschen zu würdigen. Nicht ernst genommen zu werden, ist für manche die schwerere Belastung als die posttraumatische Belastungsstörung selbst.

Wie könnte man es besser machen?

Solange wir psychosoziale Dienste nicht ausbauen, NGOs weiter geschlossen werden und Flüchtlinge bis zum Entscheid nur in Lagern gesammelt werden, wird sich da leider nichts bewegen. Das will ich aufzeigen und dagegen muss ich mich als Psychologin auch klar positionieren.