2 subscriptions and 2 subscribers
Article

Tina hat eine gespaltene Persönlichkeit - und sagt: Ich bin gesund

Tina plant ihren Alltag akribisch. Sie erzählt von einem Tag, an dem ihr Plan so aussah: 11:30 Uhr Kochen, 12:00 Essen, später Joggen. Sie räumte alle Zutaten zurecht, stellte Topf und Pfanne bereit, entzündete die Gasflammen auf dem Herd. Tina schnitt Zwiebeln, schaltete im Kopf auf Autopilot.

Vier Stunden später stand sie im Wohnzimmer und bemalte ihre Wand mit bunten Ornamenten. Sie legte die Farbe beiseite und erinnerte sich, dass heute Sport auf dem Terminplan stand. Als sie sich die Laufschuhe band, fiel ihr plötzlich ein, dass sie nie gegessen hatte und rannte in die Küche: brennende Flammen auf dem Herd, eine halbe Zwiebel auf dem Schneidebrett, ungeschnitten.

Momente wie diese erlebt Tina häufig. "Ich dachte immer, ich sei einfach nur extrem verpeilt", sagt sie. Heute weiß sie, dass diese Vergesslichkeit Ursachen hat. Tina leidet unter einer dissoziativen Identitätsstörung, früher als multiple Persönlichkeitsstörung bekannt. Nach dem sogenannten Traumamodell, dem derzeit führenden wissenschaftlichen Erklärungsmodell für eine DIS, entsteht diese als Traumafolgestörung im Kindesalter durch schweren körperlichen und seelischen Missbrauch, oft im Kontext organisierter und ritualisierter Gewalt. Um das extreme Leid erträglich zu machen, spaltet das Gehirn eines betroffenen Kindes Anteile seiner noch unvollständigen Persönlichkeit ab. Das Phänomen ist ein Überlebensmechanismus: Die Anteile "tragen" die traumatischen Erlebnisse im Unterbewusstsein und schützen das Kind so vor den grausamen Erinnerungen.

Ein Mensch mit DIS lernt demnach nach einer Spaltung nicht mehr, zu einer einzigen Identität "zusammenzuwachsen". Oftmals schlummern in den Betroffenen mehrere Dutzend Anteile mit einem eigenen Ich-Bewusstsein, das Name, Alter, Geschlecht, Vorlieben und Fertigkeiten besitzt.


Original