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Abzuholen bei Frau Schulze

Seit Jahren nimmt sie alle Pakete ihrer Friedrichshainer Nachbarn an. Damit macht sich die alte Dame viele Freunde. Und ein paar Feinde.

An ruhigen Tagen klingelt es bei Frau Schultze nur 20 Mal. Dieser klebrig-heiße im Sommer ist keiner davon. „Erst kurz nach Mittag, und schon zwölf Leute waren da“, sagt sie und fächert sich mit zerrissenen DHL-Abholscheinen Luft zu. Sie steht auf ihrer Haustürschwelle und wartet, Besucher Nummer 13 kommt im Flur auf sie zu. „Sie haben ein Paket von mir“, sagt der Mann, Mitte 30, Cargo-Shorts, Umhängetasche. „Name und Ausweis“, antwortet Frau Schultze wie eine Polizistin bei der Personenkontrolle, „sonst hab ick gar nichts“.


Er händigt aus, sie inspiziert. Die Tür handbreit geöffnet, dreht sich Frau Schultze in den engen Flur ihrer Zwei-Zimmer-Wohnung. Ingrid Schultze – eine große, starke Frau, 78 Jahre alt, mit grauen Haaren im Dutt und Berliner Schnauze, aus Ost-Berlin und immer noch da – wühlt in einem Haufen Kartons, knapp zwei Dutzend, insgesamt so hoch wie eine Waschmaschine, findet schließlich ein Amazon-Päckchen mit dem richtigen Namen. Nummer 13 schlurft davon, die Hausherrin zerreißt einen weiteren Schein. Sie wirft ihn in einen extra dafür bereitgestellten Eimer hinter der Tür.


Bis zum späten Abend wird es immer wieder bei Frau Schultze klingeln. Sie wird den Hörer neben ihrer Wohnungstür abnehmen, „Ja?“ fragen und „Ja-ha, Rückgebäude“ antworten, sie wird Ausweise anschauen und durch den Kartonhaufen stöbern. Im Scheine-Eimer werden 34 zerrissene Papierfetzen liegen. Denn Frau Schultze nimmt alle Pakete an, die in ihrer Straße im Berliner Stadtteil Friedrichshain nicht zugestellt werden. Damit macht sie sich viele Freunde. Doch der Deal, den sie mit dem Paketboten hat, ist nicht ganz legal. 


https://www.tagesspiegel.de/weltspiegel/sonntag/paketdienste-in-berlin-lieferung-abzuholen-bei-frau-...