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Interview

Zehnkampf-Weltmeister Niklas Kaul: "Ich war schon immer entspannt und locker“

Baden-Baden - Sein Sportlerleben ist gespickt mit Superlativen: Niklas Kaul hat bisher an drei Weltmeisterschaften teilgenommen, jedes Mal ist er mit Gold heimgekehrt. Im Vorfeld der Sportler-des-Jahres-Gala 2019 äußerte sich Kaul exklusiv im BT-Interview.

BT: Herr Kaul, wie fühlt es sich an jüngster Zehnkampf-Weltmeister aller Zeiten zu sein?
Niklas Kaul: Anfangs sehr surreal, mittlerweile dann doch ganz gut. Ich habe das reflektiert und langsam wird es Realität. Ich bin wahnsinnig dankbar, dass ich Weltmeister werden durfte. Im Sport ist nichts garantiert, auch wenn es in der Jugend schon sehr gut gelaufen ist. Es bieten sich im Sport immer Chancen, die man nutzen muss. Von daher bin ich sehr froh, diese bekommen und genutzt zu haben.

BT: Kann man sagen, dass Sie sich mit dem Weltmeistertitel einen Kindheitstraum erfüllt haben? Wie geht es jetzt für Sie weiter?
Kaul: Als Kind habe ich immer davon geträumt, an Weltmeisterschaften oder bei Olympia teilzunehmen. Das hat jetzt bei der WM schon mal sehr gut geklappt (lacht) und hoffentlich auch nächstes Jahr mit der Teilnahme an den Olympischen Spielen. Für mich geht es jetzt mit der Vorbereitung auf Tokio weiter. Die ist schon voll im Gange, ich bin jetzt schon wieder längere Zeit im Training. Die Zeit bis Olympia ist nicht mehr lang, deswegen ist es ganz wichtig, dass man im Training konzentriert arbeitet und den Weg, den man angefangen hat, weiter geht und nicht wirklich so viel anders macht.

BT: Sie haben sich im Laufe des Wettkampfs in Doha von Disziplin zu Disziplin gesteigert. Wann wussten Sie: Heute geht was?
Kaul: Das Gefühl kam nach dem Diskuswerfen so ein bisschen und dann nach dem Stabhochsprung so richtig auf, weil ich wusste, dass Speerwerfen und die 1500 Meter die beiden Disziplinen sind, die auch im Training am besten gelaufen sind. Dann war es eher so, dass ich mich selbst ein bisschen beruhigen musste, weil man doch aufgeregt wird, wenn man merkt, ,Oh’ heute könnte doch mehr passieren, als man gedacht hat, als man aus dem Hotelzimmer rausgegangen ist.

BT: Im Vergleich zur Konkurrenz haben Sie in Doha den Auftakt über 100 Meter in 11,27 Sekunden etwas verschlafen, woran wollen Sie mit Blick auf die Olympischen Spiele in Tokio nun konkret arbeiten?
Kaul: Klar ist, dass die 100 Meter noch immer meine schwächste Disziplin sind. Das muss man ganz klar so sehen. Ich war Viertletzter nach den Hundert, das ist natürlich nicht so gut. Auf der anderen Seite hat jeder irgendwo seine schwache Disziplin. Bei mir kommt sie halt am Anfang und ist mit den 100 Metern auch eine Disziplin, auf die viel geachtet wird. Klar muss ich sehen, dass es besser wird, da muss ich echt noch einen Schwerpunkt drauf legen. Man darf aber auch nicht zu verkrampft nur auf diese eine Disziplin schauen und versuchen, da noch einen Ticken besser zu werden, sondern man muss sich Gedanken machen, wo sind denn noch die meisten Punkte drin, wo kann ich noch am meisten rausholen?

BT: In welchen Disziplinen haben Sie aus Ihrer Sicht das meiste Verbesserungspotenzial?
Kaul: Auf jeden Fall über die 100 Meter und im Weitsprung, aber auch im Kugelstoßen ist noch ein bisschen was drin. Und im Hochsprung muss ich schauen, dass es zurück in Richtung alter Stärke geht. Dass ich da einfach wieder konstant in Richtung 2,10 Meter (Bestleistung, aufgestellt in Bydgoszcz, Anm. d. Red.) springe, das wären dann schon wieder 60 Punkte mehr.

BT: Wie oft trainieren Sie?
Kaul: Wie viele Stunden ich trainiere, hängt immer ein bisschen davon ab, welche Trainingsphase wir haben. Im Winter – also jetzt gerade – so acht, neun Mal die Woche. Das sind 16, 17 Stunden. Mehr können wir einfach nicht machen, weil wir sehr viele kurze Maximalbelastungen haben. Für Ausdauersportler ist das natürlich noch mal etwas anderes, die könnten noch mal deutlich mehr Stunden trainieren. Das schaffen wir aber nicht.

BT: Was sind Ihre Ziele für die Olympischen Spiele in Tokio? Haben Sie sich eine konkrete Punktzahl vorgenommen?
Kaul: Da habe ich mir noch gar keine genauen Gedanken drüber gemacht. Es geht jetzt erst mal darum, gut durch den Winter zu kommen, dann kann man im Frühjahr mal überlegen: Wie ist denn die Form so? Was ist ein sinnvolles Ziel? Ich glaube, dann muss man sich auf jeden Fall ein Punkteziel setzen. Aber da kann ich jetzt noch wenig dazu sagen.

BT: 141 Punkte fehlen Ihnen auf den deutschen Rekord im Zehnkampf, den Jürgen Hingsen 1984 aufgestellt hat. Was muss alles passen, damit Sie diese historische Marke angreifen können?
Kaul: Ja, die 141 Punkte, die da fehlen ... Auf der einen Seite sind Rekorde ja immer ein schöner Anreiz. Auf der anderen Seite habe ich aber noch viel Zeit und bin noch sehr jung. Ich glaube, es geht jetzt einfach darum, sich kontinuierlich zu steigern, Jahr für Jahr, ein paar Schwächen auszumerzen und sich auf ein technisch noch besseres Niveau zu bringen. Dann kann das irgendwann natürlich passieren, dass die 141 Punkte mehr da stehen, aber im Sport gibt es – wie gesagt – keine Garantien. Ich bin froh mit der Punktzahl, die ich jetzt erreicht habe. Klar schwirrt mir durch den Kopf, dass das nicht der perfekte Zehnkampf war, aber es geht jetzt einfach darum, alles noch ein Stückchen besser zu machen, dann wird das schon.

BT: Eine Ihrer Stärken ist die totale Fokussierung auf den Wettkampf – nach Außen strahlen Sie stets Ruhe aus. Sind Sie einfach eine coole Socke, oder kann man das trainieren?
Kaul: So richtig trainiert habe ich diese Ruhe im Wettkampf nicht. Ich glaube, das kommt einfach irgendwie über die Jahre, dass man sich so ein bisschen Erfahrung aneignet. Bei mir war das über die Jugendwettkämpfe. Ich war aber eigentlich schon immer relativ ruhig im Wettkampf. Entspannt, relaxt und locker zu bleiben, das ist etwas, dass man sich unbedingt behalten muss, weil gerade im Zehnkampf ein Verkrampfen das Schlimmste ist, was passieren kann.

BT: Sie sind bei Saisonhöhepunkten immer in Topform – wie schaffen Sie das?
Kaul: Puh (atmet lange aus), das weiß ich so genau auch nicht. Ich glaube einfach, wir haben es die vergangenen Jahre immer wieder sehr gut geschafft, das Training so auszurichten, dass ich auf den Punkt perfekt ausgeruht bin. Gleichzeitig aber gerade noch so lange weniger trainiert habe, dass ich im Wettkampf dann nicht zu wenig Substanz habe. Das hat bei mir sehr, sehr gut funktioniert. Man hat es ja aber auch bei anderen aus unserer Trainingsgruppe gesehen, dass es sehr gut geklappt hat in den vergangenen Jahren (unter anderem bei U-18-Europameister Manuel Wagner 2016 in Tiflis, Anm. d. Red.). Ich glaube, da haben wir einen Weg oder einen Plan gefunden, der sehr gut funktioniert. Wobei man natürlich auch sagen muss, dass das kein Masterplan für alle ist. Das ist immer sehr individuell. Ganz wichtig ist es, immer auf jeden individuell einzugehen im Training. Das ist das, was am Ende den Unterschied macht.

 „Zum Weltrekord ist es noch ein Haufen Holz“

BT: Ihr Vater und Trainer Michael Kaul hat kurz vor Ihrem entscheidenden 1500-Meter-Lauf in einem TV-Interview Ihre Taktik exakt beschrieben, wie Sie diesen angehen werden. Wie bekommt man eine Leistungssteuerung so punktgenau hin?
Kaul: Das ist bei den 1500 Metern relativ einfach, im Gegensatz zu vielen anderen Disziplinen, weil man eben genau darauf trainiert. Wenn wir die 1500 Meter trainieren, laufen wir alles im immer gleichen Tempo. Alles immer in 17,5 Sekunden pro 100 Meter, sodass das genau 2:55 Minuten auf 1000 Meter ergibt. Dann hat man den Schritt irgendwann so automatisiert und drin, dass man diese Zwischenzeiten einfach immer ganz genau trifft. Deswegen ist das bei den 1500 Metern schon ein bisschen leichter als bei den 400 Metern oder in den technischen Disziplinen.

BT: Wie gehen Sie mit der gestiegenen Erwartungshaltung um?
Kaul: Am Ende muss ich mit dem zufrieden sein, was ich mache und Spaß daran haben. Ich muss meine eigene Erwartungshaltung erfüllen. Alles, was von außen kommt, muss egal sein, sonst macht man sich verrückt. Es gibt ganz viele, die immer gesagt haben, aus dem wird nie ein Weltklasse-Mehrkämpfer, weil er einfach zu langsam ist. Aber wir wissen ja jetzt, was dabei rausgekommen ist. Genau so Sachen sind es dann halt, über die man sich keine Gedanken machen darf, weil natürlich gerade die Leute, die von außen eine Erwartungshaltung einem Athleten gegenüber bringen, die Trainingssituation nicht kennen und nicht wissen, wie es gelaufen ist in letzter Zeit. Deshalb muss man sich davon freimachen.

BT: Der Weltrekord liegt bei 9126 Punkten – trauen Sie sich zu, diese Marke irgendwann zu knacken?
Kaul: Der Zehnkampf-Weltrekord von Kevin (Der Franzose Kevin Mayer, Anm. d. Red.) ist natürlich eine ganz krasse Geschichte. Mit seinen 9126 Punkten habe ich mich noch nicht beschäftigt – und werde ich mich in nächster Zeit auch nicht beschäftigen. Das ist einfach eine Traummarke, die irgendwo steht, über die man aber nicht nachdenken darf. Das sind jetzt noch 435 Punkte, das ist in dem Leistungsbereich echt ein Haufen Holz. Ich muss über kleinere Etappenziele gehen und vielleicht bin ich dann irgendwann in einer sehr, sehr guten Form und kann den deutschen Rekord angreifen. Alles, was darüber hinaus geht, werden wir sehen. Wie gesagt: Im Sport gibt es keine Garantien. Man muss den Moment genießen. Das ist das Allerallerwichtigste.

BT: ZDF-Reporter Peter Leissl hat nach Malaika Mihambos WM-Weitsprung-Gold gesagt, dass Sie ein gutes Paar bei der Wahl zum Sportler des Jahres in Baden-Baden abgeben würden. Haben Sie sich da schon Gedanken darüber gemacht?
Kaul: Wenn Peter Leissl das sagt, gehe ich damit auf jeden Fall konform. Aber im Ernst: Da habe ich mir noch keine Gedanken gemacht. Es war wieder ein sehr starkes Sportjahr, obwohl keine Olympischen Spiele stattfanden. Aber wir haben mit Jan Frodeno zum Beispiel einen Ironman, der zum dritten Mal Hawaii gewonnen hat – in Streckenrekordzeit. Wir haben Markus Eisenbichler als Weltmeister im Skispringen, Florian Wellbrock als Doppelweltmeister im Schwimmen. Ich glaube, da gibt es harte Konkurrenz. Es ist auch etwas, das ich nicht beeinflussen kann und genau deswegen mache ich mir auch wenig Gedanken drüber. Die, die das entscheiden, müssen wissen, wen sie da wählen. Ich glaube, wir hätten es alle verdient – die Genannten plus noch ein paar andere. Die Sportarten an sich sind schwer vergleichbar, daher darf man sich da nicht so viele Gedanken drüber machen. Auf der anderen Seite würde ich mich natürlich riesig freuen, wenn ich es werden würde! (Anmerkung des Autors: Niklas Kaul ist Sportler des Jahres 2019 geworden. Malaika Mihambo Sportlerin des Jahres.) 

Zur Person
Niklas Kaul, geboren am 11. Februar 1998 in Mainz, studiert in seiner Geburtsstadt an der Johannes-Gutenberg-Universität im sechsten Semester Physik und Sport auf Lehramt. Der Radiosender „Hit Radio FFH“ hat Saulheim, den Ort in dem Kaul aufwuchs, nach seinem sensationellen Weltmeistertitel in Katar vorübergehend in „Kaulheim“ umbenannt. In den vergangenen Wochen wurde Kaul vom europäischen Leichtathletikverband zum „Rising Star 2019“ gekürt und obendrein mit dem Bambi ausgezeichnet.