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Flüchtlinge: Die Freunde und der Krieg


Sechs Freunde wuchsen gemeinsam in Damaskus auf. Sie trafen sich fast jeden Tag und spielten Computer. Dann begann der Krieg. Heute leben sie in Deutschland, Jordanien, Syrien und der Türkei. Hält sie noch etwas zusammen?


An einem Computer in Istanbul loggt Hamada sich in sein altes Leben ein. Mit einem Klick verwandelt sich der 24-Jährige, Drei-Tage-Bart und rausgewachsener Irokesenschnitt, in einen Superhelden, schwere Ritterrüstung und großes Schwert. Dann beginnt der Kampf: Monster attackieren Hamada, er schießt Feuerbälle. "Früher, in Damaskus, haben meine Freunde und ich nebeneinander gezockt. Jetzt spielen wir allein in unseren Zimmern, überall auf der Welt verteilt", sagt Hamada. Beim Fantasyspiel Dota müssen die Spieler sich aufeinander verlassen können. Sonst bringt sie der Gegner um. "Schau, den Meteor gerade hat Mahmud geworfen und mich damit gerettet", sagt Hamada.

Knapp 2.500 Kilometer von Istanbul entfernt sitzt Mahmud Sedo, 24, schulterlange schwarze Haare und Zigarette im Mund, vor seinem Computer in seiner Zwei-Zimmer-Wohnung in Hamburg. Das Licht ist gedimmt, auf seinem Schoß liegt eine Katze. Hamada und Mahmud sind keine Fremden, die zufällig zusammen spielen. Sie kennen sich seit ihrer Kindheit. Tagsüber sind sie auf die gleiche Schule gegangen, abends haben sie Computerspiele gezockt. "Ich vermisse meine Jungs", sagt Mahmud. Das Spiel und das Internet sind ihre letzten Verbindungen.

Mahmud zieht sein Smartphone aus der Hosentasche. Er zeigt ein Foto in der Bildergalerie. Aufgenommen Anfang Februar 2013. Darauf zu sehen sind:

Mahmud Sedo, der an einer Fachhochschule Ingenieurswissenschaften studierte.

Hamada Bakka, der Buchhalter werden wollte und Handel- und Wirtschaftsseminare belegte.

Omar Akil, der im dritten Semester Psychologie studierte und in die Werbung gehen wollte.

Jassin Massud*, der in einem italienischen Restaurant arbeitete.

Madschid Mnowar, der als Autoelektriker arbeiten wollte und eine Fachhochschule besuchte.

Abbas Chalil Kiwan, der als Schlosser arbeitete.

Das Foto sieht aus wie das Poster einer Boygroup, die Freunde posieren in Kapuzenpullover und mit gegelten Haaren. Wie viele Freunde, die sich aus der Schulzeit kennen, dachten sie, dass sie für immer zusammen bleiben würden.

Sie ahnten nicht, dass dieses Foto ihr vorerst letztes gemeinsames Bild werden würde. Sie ahnten nicht, dass die Zeit, in der sie Computerspiele zocken, bald vorbei sein würde. Sie ahnten nicht, dass zwei von ihnen auf einem Schlauchboot über das Mittelmeer nach Deutschland fliehen würden und einer zum Wehrdienst eingezogen werden würde, um in der syrischen Armee zu kämpfen.

Sie dachten, dass sie für immer zusammen bleiben würden

Können Freundschaften einen Krieg überdauern? Und die Flucht? Gibt es eine Verbindung für sechs Jungs aus Damaskus, deren Leben ganz anders hätte verlaufen sollen?

In Istanbul lacht Hamada, als er das Foto ausgedruckt in der Hand hält. "Wir haben früher oft Witze über Abbas gemacht, weil er sogar im Winter Flipflops trug", sagt Hamada. Wenn er sich an das Syrien seiner Kindheit erinnert, dann daran, wie die Freunde sich nach der Schule im Internetcafé trafen, bei Siad, dem dickbäuchigen Besitzer. In einem kleinen Raum ohne Fenster standen 16 Computer. "Wir knallten unsere Rucksäcke in die Ecke. Dann ging's los", sagt Hamada. Für ein paar Cent konnten sie stundenlang spielen. Manchmal schliefen sie bei Siad und öffneten für ihn am nächsten Morgen den Laden. Während die Jungs kämpften, brachten Kinder ihnen Nüsse und Cola und feuerten sie an.

Ihr Lieblingsspiel: Defense of the Ancient, kurz Dota, eine von Fans entwickelte Erweiterung der Warcraft- Reihe. Der Wald und die Monster im Spiel sehen ähnlich aus wie das Auenland und die Orks im Film Herr der Ringe. Zwei Teams treten gegeneinander an, fünf gegen fünf. Jeder bekommt eine festgelegte Rolle wie beim Fußball. Hamada war meistens der Held, der das Spiel anführte. Die anderen unterstützten ihn beim Kampf. Denn nur wenn alle gemeinsam eine Strategie entwickeln, können sie überleben, den Thron der gegnerischen Mannschaft einnehmen und so das Spiel gewinnen.

"Ich war einer der besten Spieler in Syrien", sagt Hamada. Die anderen Jungs behaupten von sich dasselbe, allerdings führt Hamada mit über 8.000 Punkten im Spiel. Sie gaben sich sogar Spitznamen. Mahmud ist "Ex", wie sein Benutzername "eXpErT!". Als Omar, Mahmud, Hamada und Madschid anfingen zu studieren, gingen sie seltener zu Siad. Sie verabredeten sich stattdessen öfter abends in Parks, rauchten und tranken heimlich Bier oder teilten eine Flasche Wodka. "Omars Vater durfte das nicht wissen", sagt Hamada, "Wir haben viel geredet, über die Familien, die Uni und die ersten Dates. Über ganz normale Dinge eben."

Omar, der auf dem Gruppenfoto in der Mitte sitzt, wohnte in Damaskus nur zehn Minuten von Hamada und den anderen entfernt. Morgens ging er in die Uni, danach traf er sich mit seinen Freunden. Seinem Vater gehört bis heute ein Friseursalon. In den Semesterferien arbeitete er dort. "Das Leben in Damaskus war sicher", sagt der 23-Jährige heute.

Die Freunde waren zufrieden in Syrien, es war eine gute Zeit. Keiner von ihnen wollte seine Heimat verlassen, nicht einmal für ein Auslandssemester. Europa, das kannten sie nur aus Filmen.

Doch im Frühjahr 2011 geriet ihr Alltag ins Wanken. Mahmud und Omar gingen zu Demonstrationen gegen den Diktator Baschar al-Assad. Sie waren voller Hoffnung auf eine bessere Zukunft. "Am Anfang der Revolution verteilten die Menschen Blumen. Erst später kamen die Waffen", sagt Mahmud. Die anderen Freunde hielten sich raus. Dann zog der Bürgerkrieg in ihr Viertel. Auf den Straßen kämpften die Rebellen gegen die Regimetruppen.

Es hätte der Moment sein können, in dem die Freundschaft an der politischen Haltung zerbricht, aber die Freunde spielten weiter. Manchmal konnten sie tagelang nicht in Siads Internetcafé gehen. "Wir trafen uns dann öfter zu Hause", sagt Mahmud. An der Hauswand auf dem Gruppenfoto erkennt man die Einschusslöcher. Am Tag, als das Foto entstand, hatte sich die Lage etwas beruhigt.

An Straßenecken in der Stadt errichtete das Militär Checkpoints, Soldaten kontrollierten Ausweise, und Bomben explodierten. An der Universität sprengte sich einmal ein Selbstmordattentäter in die Luft. Die Fenster zersprangen durch die Druckwelle. Ein Glassplitter traf Mahmud. Er hat eine lange Narbe am Oberarm. "Es herrschte Chaos", sagt Mahmud.

Über Politik redeten sie nie. Und Hamada erzählte den Freunden auch nicht, was er noch erlebte. Selbst heute spricht er nur zögerlich von jenen Ereignissen, die er gern in die Vergessenheit verbannen würde. Ihre Freundschaft bekam erste Risse.

* Name geändert

Original